- Von Hermann Wurzel -
Vor einiger Zeit überraschte im Sender SWR 2 eine deutsch-türkische Journalistin mit ihrer Biografie und Sprachkenntnis. Mit den Eltern als Türkenkind nach Deutschland gekommen, war der Schulanfang für das Mädchen mehr als schwierig. Vater und Mutter waren auf kulturellem Gebiet auch als Türken in der Türkei rückständig, und so wundert es nicht, daß es im Elternhaus keinerlei Bemühungen um die deutsche Sprache gab. Und eben auch aus diesem Grunde gestaltete sich das Leben für die Einwandererfamilie der ersten Generation in Deutschland komplizierter, als man es zunächst wahrhaben wollte.
Durch den Schulbesuch und den Umgang mit gleichaltrigen Kindern profitierte das Mädchen, das älteste der fünf Kinder, am meisten von der deutschen Sprache und war bald in der Lage, den Eltern, besonders aber dem Vater, als Übersetzerin zu dienen.
In der Schule wurde das Mädchen im Deutschunterricht sehr gefordert, aber es kam die Zeit, da die Lehrerin der immer fleißigen Schülerin erstmals ein Lob aussprach. Die deutsche Sprache verwandelte sich für Hürükok Kök in etwas Lebendiges, sie begann sich in die Sprache einzufühlen.
Auch zu Hause war sie sprachlich gefordert. Für und mit dem Vater mußte das Mädchen Behördengänge machen und dabei Umgangsformen erleben, die sie betroffen machten, nämlich die Art und Weise, wie man mit dem Vater redete.
Die Höflichkeit, welche andere mit der Anrede „Sie“ erfuhren, vermißte sie gänzlich, aber gerade dadurch festigte sich ihr Entschluß, die deutsche Sprache zu perfektionieren. Denn sie wollte es nicht erleben, auch so wie ihr Vater behandelt zu werden.
Im Laufe der Zeit, wenn auch nur ganz zögerlich, entwickelte ihr Vater Verständnis für das sprachliche Interesse seiner Tochter, und der Kauf eines 20bändigen Lexikons mit elterlichem Geld, Stück um Stück, wurde ihr gestattet. Welche Wunder taten sich da für sie auf, eine ganz neue Welt, die Faszination für die Wortgewalt der deutschen Sprache. Alles begann sich zu erweitern, auszudehnen. Sie fand Zugang zu deutschen Dichtern und ihren Werken (Goethe, Ringelnatz, Kafka, Hesse u.a.), ihre Liebe zur deutschen Sprache wuchs in einer Weise, die viele sprachmüde Deutsche beschämen muß. Entdeckte sie doch beispielsweise, daß die Ausdrucksvielfalt der deutschen Sprache 80 verschiedene Arten des Traurigseins beschreiben kann!
Ich bin nicht sicher, ob die Frau – sie ist heute, wie gesagt, als Journalistin tätig – die Zahl 80 wörtlich meinte oder einfach eine große Anzahl beschreiben wollte, in der Art, wie man auch sagt: „Ich hab`s Dir doch schon 100mal erklärt!“ oder „Tausend Dank!“ Jedenfalls bin ich, angeregt durch diese Geschichte einer vorbildhaften Integration, zur Überlegung gelangt, wie man im Deutschen „traurig“ sein kann. Tatsächlich konnte ich ohne große Mühe 20 Begrifflichkeiten finden, in welchen Trauer sprachlich zum Ausdruck kommt.
Es ging mir dann nicht darum, das Thema „Traurigkeit“ noch weiter zu vertiefen, statt dessen bin ich den Spuren der Freude und Fröhlichkeit gefolgt. Sind doch auch dem Beschwingtsein sprachlich kaum Grenzen gesetzt.
Da mag die Freude „nach den Sternen, nach dem Himmel rufen“, wenn seltenes Glück einmal ganz nahe ist.
Nachhilfe aus der Türkei für sprachmüde Deutsche: ein schöner Gegenpol zu Kanaksprak- und hoffentlich ein Zeitzeichen!
Der Artikel erschien zum erstenmal in der Zeitschrift GRALSWELT Heft Nr. 48 Juli-September 2008
PPD dankt dem Autor Herrn H. Wurzel für die freundliche Erlaubnis diesen Artikel im Blog zu veröffentlichen. Wenn Sie mit dem Autor Kontakt aufnehmen wollen, können Sie dies über unsere Adresse tun.
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