Mittwoch, 25. Mai 2011

Der Unglaube im Glauben

Von Wilfried Meyer



Nein, darum geht es nicht: ein neues Lernziel kreieren, propagieren, implementieren, evaluieren und wie die neo-pädagogischen Imponier-Vokabeln heißen mögen. Es geht um etwas Einfacheres und zugleich Schwierigeres: ein längst allgegenwärtiges und praktiziertes Lernziel bewusst zu machen und bewusst anzuwenden.

Das Lernziel ist nicht neu. Descartes hat es vorgeführt. Bei ihm heißt es Zweifel. Semel in vita – nur einmal im Leben, meinte er, solle man an allem zweifeln, um zur einzigen unumstößlichen Gewissheit zu kommen: Cogito, ergo sum – Ich denke, also bin ich. Im denkenden Ich glaubte er die anderen Gewissheiten zu finden: die Ideen Gottes, der Vollkommenheit, der Unsterblichkeit vor allem.

Ob und wie weit er das im Ernst glaubte, können wir nicht wissen. Auf seinen Grabstein ließ er die Worte anbringen: Bene qui latuit, bene vixit – Wer sich gut verborgen hat, hat gut gelebt. Der Rauch von Savonarolas und Brunos Scheiterhaufen war noch in jedermanns Nase, und ob Galilei davon verschont bleiben würde, war noch keineswegs sicher. Auch wird gewöhnlich übersehen, dass er einen Vorgänger hatte in Augustinus: Fallor, ergo sum – Ich irre, also bin ich.

Vermutlich war es Sokrates, der lange vor unserer Zeitrechnung das Lernziel Unglaube entdeckte: Ich weiß, dass ich nicht weiß. Das bedeutet ja: Es gibt vieles, von dem ich fälschlich annehme, dass es wahr ist, an dem ich als redlicher Mensch aber zweifeln muss. Stets war er bereit, als sicher geltende Gewissheiten in Frage zu stellen. Deshalb wurde er von seinen Schülern verehrt, vom Delphischen Orakel als der Weiseste bezeichnet – und von seinen Mitbürgern zum Tod durch den Schierlings-Becher verurteilt. Sicher ist sicher.

Unglaube ist kein Privileg der Ungläubigen. Unglaube wird von den Glaubenden selbst praktiziert und gepflegt, auch wenn es manchen von ihnen wenig bewusst sein mag. Die religiösen Urkunden enthalten vieles, das nicht geglaubt wird. Wer glaubt etwa, dass die Scheußlichkeiten des Alten Testaments Gottes Wille sind?

„Und der Herr redete mit Mose und sprach: Übe Rache für die Kinder Israel an den Midianitern. ............. Und sie zogen aus zum Kampf gegen die Midianiter und töteten alles was männlich war. ............. Und sie nahmen allen Raub und alles, was zu nehmen war, Menschen und Vieh, und brachten´s zu Mose. ............ Und Mose wurde zornig über die Hauptleute des Heeres ........ und sprach zu ihnen: Warum habt ihr alle Frauen leben lassen? ......... So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber die Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben.“ (Mose 4,31 in der Ausgabe der Württembergischen Bibelanstalt 1967). – Vergleichbare Ereignisse werden im Buch Josua mit schrecklicher Regelmäßigkeit berichtet.

Zur Ehre der meisten Gläubigen muss gesagt werden, dass sie gerade diesen Genozid nicht glauben, zumindest verabscheuen. Auch nicht das darin enthaltene Viehzüchter-Vorurteil: Die unberührten Mädchen sind noch nicht durch den ersten Geschlechtsakt „imprägniert“, also nicht für alle weitere Fortpflanzung verdorben. Der Samen, modern: die genetische Information, kommt allein vom Mann, also vom Juden, der sie schwängert. Sie werden deshalb echte Juden gebären. Zumindest glaubt kaum jemand, dass dies der Wille Gottes war und ist.

Geschehen oder nicht: Auf eine besondere moralische Minderwertigkeit der alten Israeliten kann man daraus nicht schließen. Dergleichen berichten viele Urkunden. Es geschah vermutlich überall auf der Welt. Nur die Juden waren so unklug – oder so intelligent, wie man will – dass sie ihre wahre oder geglaubte Geschichte aufgeschrieben haben. Aber die Gläubigen, die ihre Geschichte aufschrieben, taten dies sehr wahrscheinlich guten Gewissens.

Auch das Neue Testament enthält nicht nur die Bergpredigt, die viele Christen als die eigentliche Urkunde ihres Glaubens ansehen. Gut, dass sie das tun. Aber es steht auch anderes im Neuen Testament: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Mann zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter. ....... Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ (Math. 10.34 – 37).

Zugegeben: Der Kontext lässt erkennen, dass das Schwert nicht wörtlich gemeint ist. Das Neue Testament als Ganzes ist eine Aufforderung zum Frieden, gar zur Feindesliebe. Aber dass Unfriede zumindest in der Familie als Möglichkeit gesehen wurde, kann niemand bestreiten. Die Unbedingtheit der Forderung zur Nachfolge gebietet im Zweifel den Bruch mit persönlichen Bindungen. – So übrigens auch in der sozialistischen Religion. Da heißt es Emanzipation – was ziemlich genau das Gegenteil von Sozialität und Solidarität ist. Die Emanzipierte bricht mit den alten Bindungen und erlebt gerade dadurch ein neues, heftigeres Bindungs-Bedürfnis an die neue Religion und ihre Prediger.

Unglaube ist angebracht, ja dringend nötig gegenüber den Religionen aus den letzten zwei Jahrhunderten, der Klassen- und der Rassen-Religion. Beide verlangten wie die alten Religionen die Unbedingtheit des Glaubens und der Nachfolge. Nackter Glaubens-Gehorsam wie in den überlieferten Religionen war allerdings nicht mehr glaubhaft zu vermitteln. Beide traten deshalb in der Maske der Wissenschaft auf. Die Rassen-Religion gründete zusätzlich auf einer bisher meist übersehenen rassistischen Esoterik, die selbst das Alte Testament für sich einspannte. Himmler glaubte der wieder-geborene König Heinrich I. zu sein. Und die „Arier“ wären in Tibet unmittelbar vom Himmel gekommen und stammten nicht von Tieren ab wie die anderen Menschen. Sogar eine Expedition nach Tibet wurde finanziert, um Material für diesen „Glauben“ zu gewinnen. Wer dergleichen Quark nicht scheut, kann wahrscheinlich noch vieles entdecken.

Die Klassen-Religion, also der Marxismus, immunisierte sich gegen Kritik durch eine angeblich wissenschaftliche Methode, die Dialektik. Es ist zuzugeben: Gründliches Durchdenken eines Problems verlangt Prüfen von Alternativen, das können These und Antithese sein. Das ist in Wissenschaft und Philosophie reichlich praktiziert worden und geschieht täglich. Hegel aber hatte daraus einen Trick geformt, mit dem man aus jeder Voraussetzung jeden gewünschten Schluss ziehen kann – was gelegentlich sogar die zugeben, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Marx hat dann die historische „Analyse“ zur Prophezeiung erweitert, die als wissenschaftlich ausgegeben wurde. Wie viele diesem Glauben nach dem unrühmlichen Ende des Staats-Marxismus noch im Ernst anhängen, ist schwer zu sagen. Wir erleben gerade eine populistische Neuauflage des roten Absolutismus. Auch in Zukunft dürften Menschen mit einseitig sprachlicher Bildung noch anfällig sein. Schwanitz-Gebildete gibt es viele in Deutschland. Sie sind die gefährlichsten unter allen Ungebildeten, denn sie wissen nicht um Ihre Unbildung. Wo in aller Welt gelangt man mit bloßer Rede-Tüchtigkeit so gut durchs Abitur und zum Studium wie in Deutschland?

Die Rassen-Religion darf als erledigt angesehen werden. Eine wissenschaftliche Basis dafür hat es nie gegeben, wenn auch vor allem Geistes-Wissenschaftler dem Glauben anhingen und diesen zum Teil sogar als Wissenschaft ansahen. Der prominenteste NS-Rassen-Prediger, Günther, war Germanist, Göbbels desgleichen. Günther kam zu der zweifelhaften Ehre, eine „Rassenkunde des deutschen Volkes“ zu schreiben, weil der Verlag keinen Biologen oder Anthropologen dafür fand. Die hätten sich in ihrer Zunft unsterblich blamiert. Hitlers persönliche Quelle, der Mann, der als erster schon vor dem ersten Weltkrieg eine Hakenkreuz-Fahne hisste, Lanz-Liebenfels, war ein entlaufener Mönch, also theologisch gebildet, und verstand die Bibel als Kampf um Reinrassigkeit. Der Begründer des modernen Rassismus, Gobineau, war Diplomat und Literat. Sein Übersetzer Schemann hinterließ vier Bände über „Die Rasse in den Geistes-Wissenschaften“.

Naturwissenschaftler waren wenig anfällig. Biologen waren kaum darunter, weder unter den Vorläufern noch unter den prominenten Nazis. Was nicht ausschließt, dass sie Mitläufer und Opportunisten waren wie die meisten anderen Deutschen. Das Buch „Wer ist wer im Nationalsozialismus“ nennt einen einzigen Biologen, und der war Jude, der rechtzeitig auswandern konnte. Bezeichnend allerdings, dass unter den prominenten Nazis zwei gelernte Viehzüchter waren: Darré war Diplom-Landwirt, Himmler hatte das Studium zum Diplom-Landwirt abgebrochen und war praktizierender Hühner-Züchter.

Das gibt einen Hinweis, wo eine wichtige Ursache der Rassen-Religion zu suchen ist, vielleicht seine wichtigste: in der theoretisch nicht durchdachten Viehzüchter-Praxis. Bis vor weniger als hundert Jahren war fast jeder Mensch von Vieh unmittelbar abhängig. Viehhaltung war selbst in Städten die Regel, und wer nicht selbst Züchter war, kannte Züchter und Zucht-Rassen. Mein Großvater, kleiner Beamter, hielt nicht einfach Hühner, sondern „Weiße Leghorn“. Der Nachbar, der vermutlich mehr Wert auf Suppenfleisch legte, züchtete „Rhodeländer“. Ich Dreikäsehoch züchtete nicht irgendwelche Kaninchen, sondern „Chin-Chilla“-Kaninchen. Alle legten Wert auf eine reine Rasse.

Rasse war für die Alten, was für uns Heutige Marke ist. Also war das Wort Rasse positiv besetzt. Warum sollte das beim Menschen anders sein? Weil es Tier-Rassen gibt, muss es auch Menschen-Rassen geben, das leuchtete praktisch jedem ein. Die Einsicht, dass Natur- und Zucht-Rasse etwas Grundverschiedenes sind, war noch nicht geläufig, vermutlich auch bei vielen Biologen nicht. Aber Menschen-Rassen – oder was man dafür hält – sind keine Zucht-Rassen, auch wenn einige Menschen sich als Produkt einer Hochzucht ansahen wie ehemals Adlige.

Allerdings mussten sogar nazistische Propagandisten gegen Ende ihrer Herrschaft zugeben, dass der ideologische und der biologische Rassen-Begriff nicht zur Deckung zu bringen waren. Es sind mehrere Aussagen überliefert von der Art: Ihr Wissenschaftler wisst ja gar nicht, worum es geht!

Nichts mit Rasse im biologischen Sinn zu tun hat auch, was politische Polemik und oberflächliche Publizistik gegenwärtig als Rassismus bezeichnen. Zugegeben, es gibt verwerfliche und gefährliche Ausländer- und Behinderten-Feindlichkeit. Und es ist verständlich, wenn die Empörten ein starkes Schimpfwort suchen. Aber zur Klärung trägt die Wort-Keule Rassismus nichts bei, eher wahrscheinlich zur Verhärtung der Köpfe.

Der Unglaube steckt also tief im Glauben drin, in den alten Religionen auf jeden Fall. Ob und wie weit in den neuen, ist noch wenig untersucht worden. Der von Descartes vorgeführte methodische Unglaube ist geradezu begründend für die modernen Wissenschaften. Autoritäten im alten Sinne gibt es nicht mehr. Im Gegenteil ist es für die Autorität eines Wissenschaftlers unerlässlich, dass er zweifelt. Das gilt vor allem auch für Zweifel an den eigenen Entdeckungen, Thesen und Theorien. Poppers Empfehlung ist deshalb zeitlos: Wer seine Theorie absichern möchte, suche vor allem nach Gegenbeweisen. Darwin hat es vorgeführt. Selbst-quälerisch und mit geradezu grausamer Pedanterie hat er alles notiert und wieder und wieder durchdacht, was gegen seine Theorie sprechen könnte. Sicher ein wichtiger Grund für den Erfolg seiner Theorie.

Einstein hat möglichen Gegnern sogar das Messer in die Hand gegeben, mit dem seine Theorie zu Fall gebracht werden kann: Wenn bei der nächsten Sonnen-Finsternis die Ablenkung des Sternen-Lichtes durch die Sonne nicht beobachtet werden kann, ist meine Theorie falsch. Expeditionen wurden ausgerüstet zur Beobachtung, und es wurde beobachtet, was er vorausgesagt hatte. Beginn einer weltweiten, für einen Wissenschaftler einzigartigen Popularität.

Aber die alten Religionen! Was soll man denen empfehlen? Freiwillig sterben wollen sie nicht. Sie selbst bescheinigen sich ewiges Leben bis zum Ende der Welt. Wie sollen sie auf den allerorts praktizierten Unglauben reagieren? Es ist schwierig, werktags durch Unglauben zu Erkenntnissen, Erfolgen und Ansehen zu kommen und sonntags zu glauben. Zumal auch der Glaube an die religiösen Urkunden unvermeidliche Lücken hat wie gesehen.

Die Religionen müssen sich schon selbst helfen. Aber vielleicht sind einige ihrer Vertreter offen für eine Empfehlung. Es dürfte ihrem langfristigen Erfolg dienlicher sein, wenn sie nicht Glauben predigen, sondern Nachfolge. Besser noch: wenn sie die Nachfolge vorleben. Das lateinische Wort fides für Glaube weist die Richtung. Es heißt ja genau genommen Treue. Die Nachfolge Christi ist ein altes christliches Ideal, an das man anknüpfen könnte. Die Nachfolge des Christus der Bergpredigt ist vermutlich vielen Menschen zu vermitteln. Besser jedenfalls als die krause Dogmatik von Dreifaltigkeit, erlösungs-bedürftiger Schöpfung und Erlösung durch den Kreuzes-Tod des Gottes-Sohnes.

Ob die Anhänger des Judentums und des Islam einen ähnlichen Weg finden können, kann der Außenstehende nur schwer beurteilen. Die Nachfolge des Jesus und mancher Propheten mag in abstrakter Weise vermittelbar sein, aber auch die Nachfolge der Krieger Moses und Mohammed?

Lessings Nathan hat den Weg gewiesen: „Es eifre jeder seiner unbestochenen, von Vorurteilen freien Liebe nach“. Wir sollten uns daran gewöhnen, die Religionen nach ihrem Friedens-Potential zu beurteilen. Nicht nach ihren Worten, nach ihren Taten. Worte sind wohlfeil, auch bei den Vertretern der Religionen. Keine unserer Erlösungs-Religionen ist frei von übler Dialektik und verbrecherischer Geschichte. An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.  

Wir danken Herrn Wilfried Meyer für die exclusive Erlaubnis der Veröffentlichung
Möchte der geschätzte Leser Kontakt mit dem Autor aufnehmen, so bitte eine kurze Info an uns.

1 Kommentar:

Freiwirtschaftler hat gesagt…

"Ihr habt gehört, dass gesagt ist: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei."

Jesus von Nazareth

"Man sagt es harmlos, wie man Selbstverständlichkeiten auszusprechen pflegt, dass der Besitz der Produktionsmittel dem Kapitalisten bei den Lohnverhandlungen den Arbeitern gegenüber unter allen Umständen ein Übergewicht verschaffen muss, dessen Ausdruck eben der Mehrwert oder Kapitalzins ist und immer sein wird. Man kann es sich einfach nicht vorstellen, dass das heute auf Seiten des Besitzes liegende Übergewicht einfach dadurch auf die Besitzlosen (Arbeiter) übergehen kann, dass man den Besitzenden neben jedes Haus, jede Fabrik noch ein Haus, noch eine Fabrik baut."

Silvio Gesell

"The greatest tragedy in mankind's entire history may be the hijacking of morality by religion."

Arthur C. Clarke

Die Aussagen von wahren Genies bleiben für gewöhnliche Menschen unverständlich, und selbst den Gelehrten und ernsthaften Studenten können sie nur mit Mühe sinnhaftig werden:

http://www.deweles.de/willkommen/cancel-program-genesis.html