Anstelle
einer Verfassungsänderung
Ein
Verfassungsrichter übt scharfe Kritik am Urteil des obersten
deutschen
Justizorgans zum Einsatz der Bundeswehr im Inland. Die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts, dem Militär bei Naturkatastrophen und
schweren Unglücksfällen den Gebrauch von Kriegswaffen auch
innerhalb der Bundesrepublik zu gestatten, sei "nicht
hinnehmbar", erklärt der Jurist Reinhard Gaier. Da nun nicht
mehr ausgeschlossen werden könne, dass sich die Streitkräfte zum
"innenpolitischen Machtinstrument" entwickelten, habe das
Gericht gegen ein "fundamentales Prinzip" des deutschen
Staatswesens verstoßen. In letzter Konsequenz zeitige das Urteil
damit die "Wirkungen einer Verfassungsänderung". Nach
Auffassung des Juristen stellt die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz als "Absage an den
deutschen Militarismus, der Ursache für die unvorstellbaren
Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei Weltkriegen war",
grundsätzlich in Frage.
Fundamentale
Grundsätze aufgegeben
Am
vergangenen Freitag hat das Bundesverfassungsgericht seine endgültige
Entscheidung über Zulässigkeit und Grenzen von Bundeswehreinsätzen
im Inland bekanntgegeben. Ausgangspunkt war die im sogenannten
Luftsicherheitsgesetz enthaltene Befugnis des Militärs, mit
Reisenden besetzte Passagierflugzeuge abzuschießen, wenn diese
analog zu den Ereignissen am 11. September 2001 als Angriffsmittel
genutzt werden. Die entsprechende Passage des Gesetzes wurde von den
Richtern zwar annulliert; mit dem nun ergangenen Urteil erhält die
Bundeswehr jedoch die Erlaubnis zum Gebrauch von Kriegswaffen bei
Naturkatastrophen und "besonders schweren Unglücksfällen".
Lediglich ein Verfassungsrichter hat erklärt, diesen Beschluss nicht
mitzutragen: Nach Auffassung von Reinhard Gaier werden hiermit
"fundamentale Grundsätze aufgegeben".[1]
Absage
an den deutschen Militarismus
Dem
Juristen zufolge hat das höchste deutsche Gericht mit seiner
Entscheidung gegen das Rechtsprinzip verstoßen, "Streitkräfte
niemals als innenpolitisches Machtinstrument" einzusetzen. Bevor
er dies weiter ausführt, erinnert er seine Richterkollegen
allerdings zunächst daran, dass in der deutschen Verfassung
ursprünglich gar kein Militär vorgesehen war: "Das Grundgesetz
ist auch eine Absage an den deutschen Militarismus, der Ursache für
die unvorstellbaren Schrecken und das millionenfache Sterben in zwei
Weltkriegen war. 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland als Staat
ohne Armee entstanden; schon die Einfügung der Wehrverfassung in das
Grundgesetz im Jahr 1956 wird zu Recht 'eine Wende in der Entwicklung
der Bundesrepublik' genannt."
Strikt
zu trennen
Als
Teil der verfassungsrechtlich "gebotenen Konsequenzen" aus
den spezifisch deutschen "historischen Erfahrungen"
bezeichnet Gaier im Weiteren die "Trennung von Militär und
Polizei". Letztere sei allein und ausschließlich für die
"Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit" zuständig,
erklärt der Jurist: "Ihre Funktion ist die der Gefahrenabwehr
und nur über hierfür geeignete und erforderliche Waffen darf die
Polizei verfügen; hingegen sind Kampfeinsätze der Streitkräfte auf
die Vernichtung des Gegners gerichtet, was spezifisch militärische
Bewaffnung notwendig macht. Beide Aufgaben sind strikt zu trennen."
Wer dagegen verstoße, verkenne den "genetischen Code dieses
Landes", schreibt Gaier. Zwar habe der Gesetzgeber mittlerweile
die "Voraussetzungen für die Einbindung der Streitkräfte in
den zivilen Katastrophenschutz geschaffen", damit allerdings
"nur polizeiliche Maßnahmen, nicht aber militärische
Kampfmaßeinsätze ermöglicht".
Viel
Spielraum
Auf
besonderes Missfallen des Verfassungsrichters stößt die Aussage des
Gerichts, Inlandseinsätze der Bundeswehr mit militärischer
Bewaffnung zuzulassen, um einem "mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit in Kürze" eintretenden Ereignis
"katastrophischen Ausmaßes" entgegenzuwirken, das auch
"von Dritten absichtlich herbeigeführt" werden könne.
Hiermit habe das Bundesverfassungsgericht "die Rechtsanwendung
zwar um neue Begrifflichkeiten bereichert, nicht aber um die nötige
Klarheit und Berechenbarkeit", schreibt Gaier in seinem
Minderheitenvotum: "Es handelt sich um gänzlich unbestimmte,
gerichtlich kaum effektiv kontrollierbare Kategorien, die in der
täglichen Anwendungspraxis viel Spielraum für subjektive
Einschätzungen, persönliche Bewertungspräferenzen und unsichere,
wenn nicht gar voreilige Prognosen lassen." Insbesondere bei
Inlandseinsätzen militärisch bewaffneter Streitkräfte sei ein
solches Vorgehen jedoch schlicht "nicht hinnehmbar".
Im
Schatten der Waffen
Aufgrund
der vom Bundesverfassungsgericht gewählten Formulierungen sieht
Gaier die konkrete Gefahr, dass "bewaffnete Streitkräfte im
Inneren (...) dazu eingesetzt werden, um allein schon durch ihre
Präsenz die Bevölkerung etwa bei Demonstrationen einzuschüchtern".
Rhetorisch fragt er: "Wie ist beispielsweise zu verhindern, dass
im Zusammenhang mit regierungskritischen Großdemonstrationen - wie
etwa im Juni 2007 aus Anlass des 'G8-Gipfels' in Heiligendamm - schon
wegen befürchteter Aggressivität einzelner teilnehmender Gruppen
'mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze'
eintretende massive Gewalttätigkeiten mit 'katastrophalen
Schadensfolgen' angenommen werden und deswegen bewaffnete Einheiten
der Bundeswehr aufziehen?" Vor Augen hat Gaier dabei offenbar
aus Militärdiktaturen bekannte Bilder: "Im Schatten eines
Arsenals militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung
schwerlich gedeihen."
Kompetenzen
überschritten
In
letzter Konsequenz, urteilt der Verfassungsrichter, zeitige die
Entscheidung über den Kriegswaffeneinsatz im Inland "die
Wirkungen einer Verfassungsänderung" und ermögliche genau das,
"was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der
Koalitionspartner - und auch gegen die Stimmverhältnisse im
Bundesrat - nicht durchsetzbar war". Damit aber habe das oberste
deutsche Justizorgan klar seine Kompetenzen überschritten, vermerkt
Gaier: In Gesetzgebungsfragen sei es "nicht Aufgabe und nicht
Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, korrigierend einzuschreiten".
Innere
Unruhen
Mit
der laut Gaier erfolgten indirekten Grundgesetzänderung erhält die
Bundeswehr die nachträgliche Legitimation für ihre bereits seit
längerem laufenden Vorbereitungen auf inländische
Kriegsoperationen. Erst kürzlich haben die deutschen Streitkräfte
sogenannte Sicherungs- und Unterstützungskräfte für den
"Objektschutz" und die Niederschlagung "innerer
Unruhen" aufgestellt. Gleichzeitig wird in entsprechenden
Manövern die bewaffnete Auseinandersetzung mit feindlichen
Kombattanten an der "Heimatfront" trainiert
(german-foreign-policy.com berichtete [2]).
[1]
Quelle hier und im Folgenden: Bundesverfassungsgericht, 2 PBvU 1/11,
03.07.2012
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