Freitag, 28. Oktober 2011
Wir Bettler
von Wilfried
Meyer
Ein
Bettler ist jemand, der von anderen etwas erhalten möchte ohne eine
Gegenleistung, und der dieses durch Worte und oder Gesten anzeigt.
Wer eine Gegenleistung bietet, Geld oder Ware oder Arbeit, kann nicht
als Bettler angesehen werden. Er will tauschen. Betteln und Tausch
sind sehr alte Techniken. Betteln gibt es bei den unterschiedlichsten
sozialen Tieren, es muss also ein stammesgeschichtlich sehr hohes
Alter haben. Tausch als bewusstes, rationales Geschehen scheint es
nur beim Menschen zu geben.
(Es
gibt aber Hinweise darauf, dass Tausch ein sehr hohes Alter hat: Bei
den Aborigines in Australien, Völkern der Altsteinzeit, wurde ein
Stafetten-Handel beschrieben, der sich über etliche Kilometer
erstreckte. – In einer etwa 80.000 Jahre alten Höhle in Südafrika,
die von unseren Vorfahren bewohnt war, wurde in einer Nische
Oker-Farbe gefunden, die bei altsteinzeitlichen Völkern sehr beliebt
war; das nächste Oker-Vorkommen war 400 Kilometer entfernt. Die
Vermutung ist nicht unbegründet, dass man sie durch Tausch erhalten
hat.)
Das
Betteln um Milch oder andere Nahrung ist allen Säugetieren gemeinsam
und bei Vögeln zumindest verbreitet. Ohne Zweifel ist es durch eine
genetische Disposition gesichert, ohne dass man einen isolierten
Betteltrieb annehmen muss. Das Betteln ist Teil der Ernährung, deren
gefühlsmäßiger Antrieb der Hunger ist. Wäre keine genetische
Disposition vorhanden, die Ernährung der Jungen also von einem
reinen Bewusstseins-Akt abhängig, wäre sie nicht in gleicher
Zuverlässigkeit gesichert. Gebettelt wird aber auch um anderes als
Nahrung, etwa um körperliche Nähe, um Zuwendung, Wärme, Schutz,
zumindest bei Primaten. Das legt den Verdacht nahe, dass Betteln um
so verbreiteter ist, je sozialer die Tiere sind.
Anders
ist es beim Tausch. Zwar gibt es ähnliches auch bei Tieren, so etwa
das Angebot von Sex als Gegenleistung für Nahrung oder als
Beschwichtigung. Ob von hier aus aber eine evolutionäre Linie
gezogen werden kann zu dem bewussten und rationalen Tausch der
Menschen, ist fraglich. Allerdings muss Tausch als eine menschliche
Universalie angesehen werden. Wer will, mag die sozialistischen
Gesellschaften dazu zählen. In denen soll mehr getauscht worden sein
soll als in den kapitalistischen, um nicht von der unzuverlässigen
Planwirtschaft abhängig zu sein. (Woraus naive Menschen den Schluss
ziehen, da sei das Zusammenleben sozialer gewesen. Natürlich
schweißt Not zusammen, auch im Sozialismus.)
Ob
Tausch im Bewusstsein regelmäßig als eigene Kategorie erscheint,
mag nicht gesichert sein. Aber überall gibt es die strenge Sitte von
Geschenk und Gegengeschenk. Die beiden müssen nicht zeitgleich
geschehen. Aber sie finden so regelmäßig statt, dass man von einem
Tausch sprechen muss.
Der
Tausch ist nicht Gegenstand dieser Überlegungen. Aber er ist zu
erwähnen, weil er vom Betteln oft schwer zu unterscheiden ist.
Andererseits ist die Grenze zwischen Betteln, Tausch und Raub
flüssig. (Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu
trennen. Mephisto im Faust.)
In
unserer Geschichte war Betteln im allgemeinen erlaubt. Gelegentlich
sogar moralisch überhöht, etwa in den Bettel-Orden, die als
Gegenbewegung gegen den Reichtum entstanden, der sich bereits im
Hochmittelalter gebildet hatte und der ungehemmt zur Schau getragen
wurde. Vom Bettler erwartete man, dass er für das Seelen-Heil der
Geber betete – insofern mag auch hier von Tausch gesprochen werden.
Bettelverbote
waren selten. In Deutschland gab es die berüchtigte Ausnahme im
National-Sozialismus. Aber der Ruf nach einem Bettelverbot –
räumlich oder zeitlich beschränkt oder auch allgemein – ist nicht
generell verstummt und dürfte auch wohl nicht verstummen. Betteln
wird als lästig und ärgerlich angesehen, vor allem auch als
moralisch bedenklich.
Deshalb
haben wir eine neue Strategie erfunden: Wir lassen betteln, durch
eine Profession von oft hauptberuflichen Bettlern, die wir aber
anders benennen: Interessen-Vertreter. Die waren – allerdings nicht
unter diesem Namen – früher an allen Höfen zu finden und oft sehr
einflussreich. Die letzte starke und dauernde Vertretung dieser alten
Art dürfte die Kamarilla der Groß-Agrarier der deutschen Kaiserzeit
gewesen sein, die aber zunehmend vermischt und versippt war mit der
Groß-Industrie. Gebettelt wurde allerdings nicht wie heute direkt um
Geld, sondern um geldwerte Schutz-Zölle.
Heute ist
es die Lobby, eine Schicht von meist hauptberuflichen
Interessen-Vertretern, die sich im Vorfeld jedes Gesetz-Gebers
einfinden. Und die sehr einflussreich sind, zumal sie in der Regel
auch Experten für das von ihnen vertretene Sachgebiet sind. Als
solche kann man sie schwerlich entbehren. Sie sind deshalb offiziell
anerkannt. Allerdings wird es bedenklich, wenn sie Gesetzes-Texte
vorformulieren. Das soll nicht selten der Fall sein.
Verständlich,
dass die kleinen Leute wie wir nicht zu kurz kommen wollten und
sollten. Aber die schufen sich nicht selbst ihre Vertretung, wie die
Ideologíe glauben machen will. Es fanden sich vielmehr zunehmend
Menschen, die dieses Betteln stellvertretend übernahmen. Zunächst
die Gewerkschaften und ihre Vorläufer, dann mehr und mehr die
politischen Parteien. Auch hier ging es in der Regel indirekt um Geld
– in Form höherer Arbeits-Entgelte oder Steuer-Nachlässe. Gabe
von Bargeld und Sachspenden blieb noch lange eine Angelegenheit
persönlicher oder organisierter Mildtätigkeit, von Kirchen etwa.
Das
änderte sich grundlegend durch Bismarck. Man wird nicht ermitteln
können, welches sein stärkstes Motiv war: paternalistische oder
christliche Fürsorge, Bekämpfung der „gemeingefährlichen
Social-Demokratie“, autonomer „weißer Sozialismus“ oder Sorge
für die Arbeits-Invaliden analog zur Sorge für die
Kriegs-Invaliden. Dies letzte war zumindest in seiner Rhetorik
leitend. Der Sozialstaat begann ja mit der Invaliden-Versicherung,
die zur Renten-Versicherung wurde dadurch, dass die 70-jährigen
regelmäßig als invalid angesehen wurden. „Der Doktor hat mich
kaputt geschrieben“, war ihre entsprechende Auskunft.
Sozialismus
oder nicht – der Sozialstaat war erfunden. Und wurde ein
Welterfolg, im doppelten Sinne: Er wurde fast überall auf der Erde
kopiert, und er entwickelte sich aus kleinen Anfängen zu einem Staat
im Staate. Aus Pfennig-Beiträgen wurden „Sozial“-Abgaben, die
ein Drittel des Arbeits-Einkommens verschlangen. (Bitte beim
Nachrechnen die Steuern nicht vergessen, die ja zum Teil in die
Sozial-Kassen fließen.) Aus einer Unterstützung, die etwas zum
Familien-Einkommen betrug, wurde Adenauers „Alters-Lohn“, der ein
autonomes Leben ohne stützende Familie erlaubte. Also ist der
alleinstehende Rentner von heute ein Single, der ins Alters- oder
Pflegeheim abgeschoben wird, wenn die Zeit gekommen ist. Das Wort
sozial wurde so in sein Gegenteil verkehrt: Leben nicht mehr in
Gemeinschaft, sondern als Einsiedler, der oft auf fremde und teure
Hilfe angewiesen ist.
Es
ist bis jetzt nur wenigen Menschen bewusst, welcher unglaubliche
Schwindel in der Adenauer-Zeit passiert ist: Aus der
Renten-Versicherung, die korrekt Rücklagen bildete, wurde eine
Renten-Umlage, die heute verteilt, was letzten Monat herein kam.
Schlimmer: Die den gegenwärtig Arbeitenden versprach, es werde immer
so bleiben. „Aber Kinder haben sie Leute doch immer!“ soll
Adenauer seinen Kritikern entgegen gehalten haben, die auf die
Gefahren dieses Systems hinwiesen.Der einsichtige, aber wenig
durchsetzungsfähige Minister Erhard wurde nicht gehört.
Wir
wissen es inzwischen besser durch bittere Erfahrung: Kinder sind
keine Natur-Konstante, kommen nicht mehr von Gott oder der Natur, wie
es einmal gewesen sein soll. Kinder werden in die „Erwerbs-Biografie“
eingeplant oder nicht. Da sich in Deutschland Kinderlose besser
stehen als Eltern, unterbleibt die Kinder-Zeugung bei vielen
Menschen. Vor allem bei den Erfolgreichen. Man muss nicht annehmen,
dass sich deren Erfolg biologisch vererbt. Aber einen Zusammenhang
zwischen Erfolg der Eltern und der Kinder gibt es überall auf der
Welt, in Deutschland nur etwas zuverlässiger als in anderen Ländern.
Dank PISA wissen wir es sehr sicher und genauer als davor.
Aber
leider: Familien sind offenbar schlechte Bettler, jedenfalls was den
Erfolg ihrer Aktionen angeht. Schande für alle sogenannten
Sozial-Politiker: Von Zeit zu Zeit muss jemand nach Karlsruhe gehen
und beim höchsten Gericht klagen, damit den Familien ein kleines
Stückchen Gerechtigkeit widerfährt. Also muss er beim höchsten
Gericht betteln, damit er gehört wird. Da wird er übrigens mit
großer Sicherheit auch erhört. Nützt ihm aber wenig, da die
Politiker diesbezüglich sehr schwerhörig sind. – Betteln ist
somit unser aller Schicksal geworden.
Eingestellt von PPD am Freitag, Oktober 28, 2011 Labels: Werte
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