Mittwoch, 23. November 2011

Ein Jahr UK Uncut



Übersetzt von Susanne Schuster

Am 27. Oktober 2010, nur eine Woche nachdem der britische Finanzminister George Osborne die größten Kürzungen der öffentlichen Leistungen seit den 1920-er Jahren angekündigt hatte, rannten 70 Leute die Londoner Einkaufsmeile Oxford Street entlang, gingen in den Vorzeigeladen von Vodafone und setzten sich hin. Vodafone hatte Steuern in Höhe von 6 Milliarden englische Pfund (7 Mrd. Euro) vermieden, deshalb machten wir ihren Flagship-Laden zu. UK Uncut war geboren.

Es begann mit einer Idee und einem Hashtag, beide verbreiteten sich in sozialen Medien wie ein Lauffeuer. Nur drei Tage später, am 30. Oktober, wurden dreißig Vodafone-Läden im ganzen Land zugemacht. Eine Woche später wurde die „Big Society Revenue and Customs“ lanciert – wenn die Regierung nicht dafür sorgen würde, dass Steuervermeider bezahlen, dann wir. Philip Greens Steuervermeidungsimperium wurde zu unserer Liste hinzugefügt und wir machten seinen größten Laden in London zu. In Bury St Edmunds legten sich Alex und seine Mutter in den Eingang eines Vodafone-Ladens und zwangen ihn, zu schließen. An jenem Tag gab es Proteste in 23 unterschiedlichen Städten. Zwei Wochen später, am „Zahltag“, fanden 55 Proteste in den Einkaufsmeilen in Städten im ganzen Land statt. In Brighton klebten sich Aktivisten im Nikolauskostüm am Schaufenster von BHS fest, im Londoner Hauptladen von Topshop veranstalteten Aktivisten einen „Sporttag“ mit Eierlöffelrennen, Fußball und Scherensprüngen. Ein fünzehnjähriges Mädchen in Liverpool organisierte eine Aktion, machte einen Topshop-Laden zu, und eilte nach Hause, um auf ihre GCSE-Prüfung (etwa mittlere Reife, d. Ü.) zu lernen. Am 30. Januar, einen Tag vor dem Stichtag für die Steuererklärung, mobilisierten wir wieder, nun mit Boots und Tesco auf unserer Liste der Steuervermeider: Bis zu 30 Proteste fanden im ganzen Land statt. Innerhalb weniger Monate war aus uns eine nationale Bewegung geworden.

Im Februar begann die zweite Stufe unserer Kampagne. Wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf die Banken. Und „Uncut“ wurde international. Am 26. Februar veranstalteten UK Uncut und die neu formierte Bewegung US Uncut einen “Bail-in” der geretteten Banken. Mehr als 100 Aktionen fanden statt, von London bis Dundee und von New York bis Honolulu. Wir richteten Kinderhorte, Waschsalons, Klassenzimmer, Büchereien, Obdachlosenheime, Theatervereine, Ambulanzen, Jugendzentren, Arbeitslosenagenturen und Freizeitzentren in Banken in ganz Großbritannien ein. Wir hatten eine einfache Botschaft: Es ist ihre Krise, sie sollten dafür bezahlen.

Im März ging es im gleichen Tempo weiter. Am 26. März schlossen wir uns den 500.000 Demonstranten im Zentrum Londons an, die eine Alternative zu den Kürzungen und Sparmaßnahmen forderten. UK Uncut-Gruppen aus dem ganzen Land kamen zusammen, um Oxford Street, Banken und Läden zu besetzen und in Büchereien und Theater zu verwandeln, in BHS sah man eine Shakespeare-Aufführung mit Sam und Anthony West, und es gab Freiluftkabarett mit Josie Long und Mark Thomas. Hunderte von uns schlossen sich zusammen, um den ikonischen Laden Fortnum and Mason zu besetzen – er ist nicht nur ikonisch als Lebensmittelladen der Königin, sondern auch als Steuervermeider. 145 von uns wurden bei dem Protest, der von der dort anwesenden hochrangigen Polizeibeamtin als „vernünftig und gewaltlos“ bezeichnet wurde, festgenommen und unter Anklage gestellt. Gegen 30 von uns wird immer noch ein Prozess geführt. In den Medien und im Parlament hat man uns fürchterlich beschimpft. Doch in dieser schwierigen Zeit entstand auch viel Schönes. Die Unterstützung und Solidarität, die wir von Gruppen und Einzelpersonen, NGOs, und Gewerkschaften, von Mums Uncut und Art Uncut erfahren haben, war inspirierend.

Im Mai waren wir wieder da! Abermals besetzten wir Banken im ganzen Land zur Durchführung einer „Notoperation“, um staatliche Kürzungen bei unserem NHS (dem staatlichen Gesundheitsdienst) zu stoppen. Aktivisten in Krankenhauskitteln, bewaffnet mit Kunstblut und Bandagen richteten „OP-Säle“ in den Filialen der vier großen Banken (RBS, Natwest, Barclays und Lloyds) ein. Uncut wurde immer internationaler: Portugal und Kanada Uncut veranstalteten ihre ersten Aktionen. US Uncut inszenierte im April eine viertägige Besetzung von steuervermeidenden Konzernen von Hawaii bis New Hampshire.

Im Juni unterstützten wir die Arbeiter, die für eine Alternative streikten, das “Big Society-Frühstück” brachte den Streikposten Solidaritätstee, um zu zeigen, dass wir „alle im gleichen Boot sitzen“. An diesem Tag streikten 700.000 Menschen, im November werden wahrscheinlich Millionen streiken.

Am 9. Oktober nahmen wir am größten Akt massenhaften zivilen Ungehorsams teil, der in diesem Land seit vielen Jahren stattgefunden hat. Mehr als 2.000 Menschen kamen aus dem ganzen Land zum Zentrum Londons, um in einem letzten großen Gefecht zur Rettung des NHS die Westminster Bridge zu besetzen. Wir wurden im herbstlichen Sonnenschein von unseren Clownärzten unterhalten, wir schlossen uns zusammen mit Krankenpflegepersonal, Patienten, Gewerkschaftern und besorgten Bürgern. Wir kamen, um die Brücke und die Gesetzesvorlage zu blockieren. Als wir gingen, fühlten wir uns von den Menschen, die bereit waren, das was richtig ist, zu verteidigen, ermächtigt und inspiriert. Am Ende dieser Aktion wurde die erste allgemeine Versammlung begründet, aus der Occupy London entstand; dessen mutige Aktivisten campieren noch immer vor der Kathedrale St. Paul’s.

Was für ein Jahr! Jeder der bei UK Uncut mitgemacht hat, sollte stolz auf seine Handlungen sein und sich ermächtigt fühlen, mehr zu tun. In nur einem Jahr haben wir all dies erreicht. Aus einem Hashtag und einer Idee haben wir uns zu einem nationalen und internationalen Netzwerk von Menschen entwickelt, die etwas unternehmen.

UK Uncut setzt sich aus den Personen zusammen, die an Aktionen teilnehmen. Wir sind ihr. Wir sind Mütter und Rentner, Gewerkschafter und Studenten, Angestellte im privaten Sektor und Arbeitslose, Behinderte und Schulkinder. Wir sind normale Leute, die dafür einstehen (oder sich hinsetzen), woran wir glauben, und für die Änderungen, die wir sehen möchten.

Die Leute fragen uns gelegentlich, was wir erreicht haben und was wir zu erreichen hoffen als UK Uncut. Denkt bei diesen Gelegenheiten an die inspirierenden, kreativen Direktaktionen, die wir zusammen unternommen haben, die Netzwerke an Freunden und Aktivisten, die wir geschmiedet haben, und die Debatten über echte Alternativen zu diesen unnötigen Kürzungen, die wir entzündet haben. Über unsere Anliegen wurde in der nationalen Presse ausführlich berichtet, wir haben das Thema Steuervermeidung in die TV-Hauptsendezeit gebracht, wir haben die Debatte mitgestaltet und Steuervermeidung auf der politischen Agenda ganz nach oben geschoben. Die Anwälte der Königin sagten, wir hätten recht gehabt, die britische Einkommens- und Steuerbehörde (HMRC) führte Schulungsseminare über uns durch und PR-Experten diskutierten darüber, wie man sich als Ziel von UK Uncut verhalten sollte. Eine Myriade öffentlicher Persönlichkeiten drückte ihre Unterstützung für uns aus, während der Londoner Bürgermeister Boris Johnson und Innenministerin Theresa May gegen uns hetzten.

Denkt ebenfalls an die schwer erkämpften politischen Siege, die langsam aber sicher echte politische Veränderungen herbeiführen werden. Parlamentarier setzen sich für uns im Unterhaus ein, zeichnen frühzeitige Anträge (Early Day Motions, EDM) mit und versuchen, eine Steuerreform einzuführen. Unsere Kampagnen veranlassten den Nationalen Rechnungshof (National Audit Office) und den Sonderausschuss des Finanzministeriums (Treasury Select Committee), fragwürdige Steuerdeals zu untersuchen. Diese Untersuchungen haben dazu geführt, dass der Chef der Einkommens- und Steuerbehörde Dave Hartnett nun mit dem Rücken zur Wand steht und sie zwingen die britische Einkommens- und Steuerbehörde dazu, ihren Umgang mit Steuervermeidern zu überdenken.

Wir haben noch einen langen Weg vor uns, es gibt noch Vieles zu lernen – zusammen schaffen wir es.

Bis bald auf der Straße!


DankeTlaxcala
Quelle:http://www.ukuncut.org.uk/blog/a-year-of-ukuncut
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 27/10/2011
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=6265

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