Von Anat Kálmán
Vor
einem Jahr, beim zeitgleichen Inkrafttreten von Ungarns neuem
Mediengesetz und dem Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft
brandeten gegen die ungarische Regierung aus westlicher Richtung
Schlagzeilen und Wortmeldungen in bisher noch nicht dagewesener
Schärfe und Dichte an. Auch seitdem gehören in westlichen Medien
überzogene, unsachliche Darstellungen zum guten Ton, wenn es um
Ungarn geht. Die Journalistin Anat Kálmán beleuchtet die
Hintergründe und Gefahren dieser Sonderbehandlung.
Unter
diesem Titel verfasste der französische Schriftsteller Emile Zola am
13. Januar 1898 in der Zeitschrift L’Aurore einen offenen Brief an
den damaligen französischen Staatspräsidenten Félix Faure.
Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus war gerade wegen angeblichen
Hochverrats zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden – unter dem
Zuspruch und Applaus der gesamten europäischen Presse. Im
Zweifelsfall gegen den Angeklagten war damals die Devise. Das
ist sie auch heute bei der Behandlung von Ungarn. Erschreckend
einstimmig ist die Presse des Westens auch diesmal, von Österreich
über Deutschland, Luxemburg bis nach Frankreich und den USA.
Sie alle sind sich einig: Zurzeit herrscht in Ungarn ein
faschistoid-totalitäres Regime.
Wer
sich über das Panoptikum der Pressemeldungen zu Ungarn
beugt, wird sich in einem Dickicht von Superlativen wiederfinden. Da
erklären in der deutschen Tagesschau, gleich nach den Meldungen über
die Massendemonstrationen in Syrien und
Russland, auch ungarische Oppositionelle, ihr Land sei auf dem Weg in
die Diktatur. Die werden vor laufenden Kameras dann sogar noch
„festgenommen“. Und zu alledem wird auch noch das einzige
unabhängige Radio, das Klubradio „verboten“. In der
ZEIT lesen wir sogar, dass es neuerdings beim öffentlich-rechtlichen
Fernsehen „katastrophal“ zugehe. Davon berichtet die
grundsätzlich regierungskritische Journalistin Edit Inotai, die zwar
nicht beim Fernsehen arbeitet, dafür aber bei der „ungarischen
Qualitätszeitung“ Népszabadság.
Doch
nicht nur die deutschen Medien überschlagen sich mit
Negativmeldungen aus Ungarn. In Wien berichtet im Dezember 2011 der
Standard, in Ungarn herrsche die Angst. Das Luxemburger Tageblatt
meint Ungarn habe in Europa nichts zu suchen. Und Florence La
Bruyère kündigt in der Libération sogar an, das neue Wahlgesetz
gäbe es nur, um künftig freie Wahlen zu verhindern. Bei alledem
bekommt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban dann auch noch
die fantasievollsten Ehrentitel verpasst: Mal ist er ganz literarisch
„König Ubu“, dann der „Putin aus der Puszta“, der
„ungarische Haider“, der „ungarische Lukaschenko“, der
„kleine Mussolini“ oder nur ganz einfach nur „König Viktor“.
Bei
genauem Hinsehen nimmt sich die Bilnaz vieler Anklagen dürftig aus
Ja,
ich klage an – j’accuse. Denn die Bilanz für denjenigen, der die
vielen Anklagen unter die Lupe nimmt, ist dürftig, ja geradezu
peinlich. Derjenige muss zum Beispiel feststellen, dass die so
genannte Verhaftung von Oppositionellen, die wir doch
alle in der ARD Tagesschau live miterlebt haben, ja überhaupt keine
Verhaftung gewesen war. Da hatten sich am Tag der parlamentarischen
Abstimmung über das neue Wahlgesetz einfach mehrere Abgeordnete
der Grünen Oppositionspartei LMP aus Protest an die Schranken
der zwei Zufahrten zum Parlament gekettet und so versucht, die
anderen Abgeordneten daran zu hindern, mit ihren Autos auf den
dortigen Parkplatz zu gelangen. Das passte der Polizei natürlich
überhaupt nicht und so kettete sie die protestierenden
Oppositionellen einfach ab und hielt bis zum Ende der
parlamentarischen Sitzung fest. Eine so prächtige PR wollte sich
freilich auch Sozialisten-Chef Attila Mesterházy nicht entgehen
lassen. Flugs eilte er aus dem Sitzungssaal herbei. Nur wollte ihn
niemand arretieren. So stieg er freiwillig in den Kleinbus der
Polizei und ließ sich durchs Fenster dankbar von den reichlich vor
Ort vorhandenen Journalisten ablichten.
Als zweifelhafte Meldung
entpuppte sich auch die Nachricht über das Klubradio. Denn dieses
Radio wurde nicht von der Regierung zum „Verstummen“ gebracht und
auch nicht verboten. Die bisherigen Nutzer der Klubradio-Frequenz
hatten an einer Ausschreibung teilgenommen und bekamen zusammen mit
anderen Bewerbern schlicht nicht den Zuschlag. Natürlich kann man
hier mit einem Augenzwinkern gewisse kritische Fragen stellen, aber
es muss zunächst einmal korrekt berichtet werden, dass es sich hier
nicht um ein „Verbot“, sondern um eine ganz normale
Ausschreibung gehandelt hat, bei der es üblicherweise Gewinner
und Unterlegene gibt.
Was nun die ungarische Qualitätszeitung
Népszabadság, anbelangt, so vergisst die ZEIT zu erwähnen, dass
dieses Blatt das Parteiblatt des ehemals kommunistischen
Einparteienstaates war und darum auch jetzt immer noch eindeutig
hinter den Sozialisten steht. Das ist absolut in Ordnung, nur es
handelt sich hier eben nicht um eine unabhängige Qualitätszeitung.
Zumal sie im Jahre 2003 auch noch in eine ziemlich unsaubere Affäre
verwickelt war. Damals war der ungarisch-amerikanische Atomphysiker
Edward Teller gerade verstorben, als angeblich via Fax ein Brief in
der Redaktion der besagten Zeitung einging. Der Inhalt war in erster
Linie politisch gewesen. In dem Brief behauptete Edward Teller,
dass die damalige Oppositionspartei Fidesz
antidemokratische Mittel einsetzen würde, um die sozialistische
Regierung anzugreifen. Nur konnte sich keiner so richtig vorstellen,
welche antidemokratischen Mittel das denn sein könnten und weshalb
Edward Teller seine letzten Stunden mit dem Verfassen eines
solchen Briefes verbracht haben soll. Nichts desto trotz war die
Aufregung groß. Der Brief wurde Tage lang als das politische
Testament eines großen ungarischen Wissenschaftlers gehandelt,
bis sich herausstellte, er war gefälscht, gefälscht von der
besagten ungarischen Qualitätszeitung.
Dabei gäbe es so viele
tatsächliche Fragen zu erörtern. Wirtschaftspolitisch hatte Viktor
Orbán versucht, ohne weitere Kredite des IWF einen eigenen Weg
einzuschlagen. Da wird die Ungarische Nationalbank wieder unter
die Kontrolle des Staates gebracht, was ja eigentlich den
Vorstellungen der europäischen Linken entspricht. Aber auch
bildungspolitisch werden zurzeit neue Weichen gestellt, es gibt eine
neue Verfassung und ein neues Wahlrecht. Und was erfahre ich konkret
darüber, welche tatsächlichen Informationen werden mir
geliefert und zur Debatte gestellt? Keine.
Stattdessen wird jedes
neue Gesetz, jeder neue Erlass zum Anlass genommen die immer gleichen
Hassparolen zum x-ten Male neu aufzubrühen. Vokabular, Semantik, die
fehlende Argumentationsstruktur, die vielen vagen
Anspielungen, Vermutungen und Suggestivformeln
wie …natürlich hat …. wie sollte es auch anders sein … führen
zu einer Art Monotonie, die ganz typisch ist für Propaganda. Und das
Tragische bei all dem: Als Leser, Hörer oder Zuschauer fühle ich
mich mittlerweile regelrecht hinters Licht geführt, und als
Bürgerin, als „Citoyenne“ nicht mehr ernst genommen. Denn ich
frage mich wirklich: Was passiert hier eigentlich?
Doch die
Polemik gegen die amtierende Fidesz-Regierung ist nicht neu. Sie ist
Teil eines Kampfes gegen alles Konservative. Schon die erste
christdemokratische Regierungspartei MDF (Ungarisches
Demokratisches Forum) unter dem verstorbenen Ministerpräsidenten
József Antall (1990-1994) war ständig dem Vorwurf ausgesetzt,
populistisch und damit tendenziell auch faschistoid zu sein. Es
reicht, hier ein wenig in den Archiven zu wühlen, um zu sehen: Der
Grundtenor der Unterstellungen war der gleiche wie heute, so
lange bis das MDF mit der Faschismuskeule zertrümmert war.
Seit
1998 steht für die sozialistische Gemeinde “Fidesz-Hassen” auf
dem Programm
Seit
1998 steht für die gesamte sozialistische Gemeinde nun
„Fidesz-Hassen“ und „Orbán-Bashing“ auf dem Programm.
Damals hatte Viktor Orban zum ersten Mal die Wahlen
gewonnen, es gab noch kein Mediengesetz, kein neues Wahlgesetz,
trotzdem war der ZEIT am 14. September 2000 klar: „Orban legt
der Politik die Zügel an“. Da man ihm keine aktive
Zusammenarbeit mit den Rechtsextremisten nachweisen konnte,
verwendete man eben vage Anspielungen, indem man etwa dem
linksliberalen Miklós Vásárhely den Satz in den Mund legte:
Viktor Orban, ein hochbegabter Mann ohne Prinzipien. Ein Mann
ohne Prinzipien also, der mit Rechtsextremisten liebäugelt und nur
so tut, als wäre er ein Demokrat… da haben wir’s!
Dabei
stößt man genau an diesem Punkt auf ein ganz zentrales Problem der
ungarischen und im weiteren Sinne auch der osteuropäischen
Gesellschaft. „Rechtsextrem“ wird in Mittel- und Osteuropa
wörtlich verstanden, das heißt immer als eine radikale Form von
konservativ. Das Wissen um eine antifaschistische Konservative gibt
es nur in den Ländern des Westens, denn dort gab es tatsächlich
konservative Antifaschisten, wie General Charles de Gaulle oder
Winston Churchill. In Ungarn herrschte zwischen 1920 und 1945 dagegen
ein autoritär konservatives Regime, das sich mit Hitler-Deutschland
verbündete und dann vom ihm überrannt wurde, was zur Deportation
von über vierhunderttausend ungarischen Juden führte. Von daher ist
der Übergang von konservativ-autoritär zu faschistisch in diesen
Regionen ein gleitender gewesen, was das Verständnis
der Menschen von „rechts“ und von „rechtsextrem“ prägte und
heute die Etablierung einer konservativen politischen Kraft
erschwert. Denn seit 1944 gilt alles, was sich konservativ nennt, als
potentiell „faschistoid“.
Nicht
jeder Kommunist war Jude und nicht jeder Jude Kommunist
Hierin
liegt auch der Schlüssel für den konstanten
„Antisemitismus-Vorwurf“. Denn alles Konservative und damit
grundsätzlich Faschistoide steht nun im Gegensatz zu
„liberal-jüdisch-ehemals-kommunistisch-jetzt sozialistisch“, was
aber auch nur ein Klischee ist. Denn nicht jeder Kommunist war Jude
und nicht jeder Jude war Kommunist. Trotzdem funktioniert dieses
Klischee. Wenn nun nämlich jemand aus der konservativen Ecke
etwas gegen diese
„liberal-jüdische-ehemals-kommunistisch-jetzt-sozialistische“
Seite sagt oder einen anderen als Ex-Kommunisten
beschimpft, ist er in diesem Sinne eben schon ein Antisemit. Nur:
diese scheinbaren Antisemiten haben nichts zu tun mit der tatsächlich
antisemitischen und rechtsextremistischen Jobbik-Ecke, die etwa mit
furchtbaren Autoaufklebern darauf hinweisen, dass ihr Auto
„judenrein“ sei, die auf ihren Blogs gegen Juden und Romas hetzen
und auf dem Land ethnische Konflikte schüren. Na, alles
verstanden?
Fakt
ist, dass auch heute nicht jeder ungarische Jude Sozialist ist und
natürlich auch der Fidesz, wie jede andere Partei, jüdische
Mitglieder hat, ebenso wie Vertreter der Roma-Minderheit.
Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang auch, dass
unter der ersten Fidesz-Regierung zwischen 1998 und 2002 der
Holocaust-Gedenktag eingeführt wurde und die Regierung nun
dabei ist, einen Wiedergutmachungsfonds für
ehemalige ungarische Holocaustopfer einzurichten.
Hochkomplexe
ungarische Zusammenhänge werden instrumentalisiert
Ja,
darum klage ich an – j’accuse – denn genau diese hochkomplexen
ungarischen Zusammenhänge und die daraus
resultierenden Missverständnisse werden von bestimmten
ex-reformkommunistischen Kreisen instrumentalisiert, um über die
antifaschistische Schiene der westlichen Presse blind auf eine
konservative Regierung einzuschlagen. Und die versucht sich nun mit
ungeschickten Mediengesetzen zur Wehr zu setzen. Darin wird unter
anderem eine „ausgeglichene Berichterstattung“ gefordert, was ja
unter den beschriebenen Zuständen auch durchaus verständlich ist.
Doch genau damit schließt sich der Teufelskreis von Diffamation und
Reaktion und wird zur Self fulfilling prophecy. Denn jetzt kann man
natürlich sagen: Seht her, der Fidesz beschneidet die
Pressefreiheit.
Ja, ich klage an – j’accuse – all
diejenigen, die sich dieser blind-aggressiven Propagandamaschine
zur Verfügung stellen, die mit Anspielungen, Vermutungen
und Halbwahrheiten versuchen, eine Demokratie zu
zerschmettern.
Und ich fordere: Hören Sie auf, auf Personen und
Zusammenhänge einzudreschen, die Sie nicht wirklich kennen. Lesen
Sie auch Kritiken kritisch. Jede niveauvolle Kritik, sei sie auch
noch so scharf, verhöhnt nicht, sondern argumentiert und liefert
zunächst einmal Fakten. Eine niveauvolle Kritik lässt immer beide
Seiten zu Wort kommen und erläutert das Gedachte und das Gesagte –
auch das des Gegners. Eine niveauvolle Kritik zwingt dem Leser keine
Meinung auf, sondern erlaubt ihm, sich selbst seine Meinung zu
bilden. Denn wer starre Feindbilder produziert, malt den Teufel an
die Wand, den er selbst im Leib hat. Auch das hat uns die Geschichte
gelehrt.
Ja, ich klage an, j’accuse et j’attends!
(Die
Autorin arbeitet seit 1995 als freie Mittelosteuropa-Korrespondentin
für alle öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalten in Deutschland.
Derzeit lebt sie in Paris.)
Mutige
Journalistin versus Medienlemminge
„Für
eine Freie Journalistin einen solchen Beitrag zurückzuziehen, um die
Wahrheit nicht zu verzerren und damit auch längerfristig den Verlust
einer Einkommensquelle zu riskieren, das erfordert Mut – ganz
anders als die vorwiegende Lemming-Berichterstattung der Medien. Hut
ab.“
Der WELT-Korrespondent Boris Kálnoky in einem Internetblog
auf die Nachricht, dass Anat Kálmán im Herbst 2011 eine Reportage
über die politischen Verhältnisse in Ungarn lieber zurückzog
als sie im Sinne der bundesdeutschen Political Correctness zu
verfälschen.
Auf
den Fotos ist die größte Demonstration zu sehen, die seit der Wende
in Ungarn stattfand. Tausende Menschen gingen FÜR DIE REGIERUNG
am letzten Wochenende auf die Straße. Auch wenn das bestimmte Kreise
in der EU nicht wahrhaben wollen. Die Wahrheit findet auf der Straße
statt und dort stimmen die Menschen ab. Sichtbar für alle anderen
Menschen, wenn deren Medien diese Sichtbarkeit zulassen.
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