Montag, 23. Januar 2012

Ich klage an – J'accuse


Von Anat Kálmán   

Vor einem Jahr, beim zeitgleichen Inkrafttreten von Ungarns neuem Mediengesetz und dem Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft brandeten gegen die ungarische Regierung aus westlicher Richtung Schlagzeilen und Wortmeldungen in bisher noch nicht dagewesener Schärfe und Dichte an. Auch seitdem gehören in westlichen Medien überzogene, unsachliche Darstellungen zum guten Ton, wenn es um Ungarn geht. Die Journalistin Anat Kálmán beleuchtet die Hintergründe und Gefahren dieser Sonderbehandlung.




Unter diesem Titel verfasste der französische Schriftsteller Emile Zola am 13. Januar 1898 in der Zeitschrift L’Aurore einen offenen Brief an den damaligen französischen Staats­präsidenten Félix Faure. Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus war gerade wegen angeblichen Hochverrats zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden – unter dem Zuspruch und Applaus der gesamten europäischen Pres­se. Im Zweifelsfall gegen den Angeklag­ten war damals die Devise. Das ist sie auch heute bei der Behandlung von Ungarn. Erschre­ckend einstimmig ist die Presse des Westens auch diesmal, von Österreich über Deutsch­land, Luxemburg bis nach Frankreich und den USA. Sie alle sind sich einig: Zurzeit herrscht in Ungarn ein faschistoid-totalitäres Regime.


Wer sich über das Panoptikum der Pres­se­meldungen zu Ungarn beugt, wird sich in einem Dickicht von Superlativen wiederfinden. Da erklären in der deutschen Tagesschau, gleich nach den Meldungen über die Mas­sen­de­mon­stra­tionen in Syrien und Russland, auch ungarische Oppositionelle, ihr Land sei auf dem Weg in die Diktatur. Die werden vor laufenden Kameras dann sogar noch „festgenommen“. Und zu alledem wird auch noch das einzige unabhängige Radio, das Klub­ra­dio „verboten“. In der ZEIT lesen wir sogar, dass es neuerdings beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen „katastrophal“ zugehe. Da­von berichtet die grundsätzlich regierungskritische Journalistin Edit Inotai, die zwar nicht beim Fernsehen arbeitet, dafür aber bei der „ungarischen Qualitätszeitung“ Népszabad­ság.
Doch nicht nur die deutschen Medien überschlagen sich mit Negativmeldungen aus Ungarn. In Wien berichtet im Dezember 2011 der Standard, in Ungarn herrsche die Angst. Das Luxemburger Tageblatt meint Un­garn habe in Europa nichts zu suchen. Und Florence La Bruyère kündigt in der Libération sogar an, das neue Wahlgesetz gäbe es nur, um künftig freie Wahlen zu verhindern. Bei alledem bekommt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban dann auch noch die fantasievollsten Ehrentitel verpasst: Mal ist er ganz literarisch „König Ubu“, dann der „Putin aus der Puszta“, der „ungarische Haider“, der „ungarische Lukaschenko“, der „kleine Mussolini“ oder nur ganz einfach nur „König Viktor“.



Bei genauem Hinsehen nimmt sich die Bilnaz vieler Anklagen dürftig aus
Ja, ich klage an – j’accuse. Denn die Bilanz für denjenigen, der die vielen Anklagen unter die Lupe nimmt, ist dürftig, ja geradezu peinlich. Derjenige muss zum Beispiel feststellen, dass die so genannte Verhaftung von Oppo­si­tio­nellen, die wir doch alle in der ARD Tagesschau live miterlebt haben, ja überhaupt keine Verhaftung gewesen war. Da hatten sich am Tag der parlamentarischen Abstimmung über das neue Wahlgesetz einfach mehrere Ab­geordnete der Grünen Oppo­sitionspartei LMP aus Protest an die Schranken der zwei Zufahrten zum Parlament gekettet und so versucht, die anderen Abgeordneten daran zu hindern, mit ihren Autos auf den dortigen Park­platz zu gelangen. Das passte der Polizei natürlich überhaupt nicht und so kettete sie die protestierenden Oppositionellen einfach ab und hielt bis zum Ende der parlamentarischen Sitzung fest. Eine so prächtige PR wollte sich freilich auch Sozialisten-Chef Attila Mesterházy nicht entgehen lassen. Flugs eilte er aus dem Sitzungssaal herbei. Nur wollte ihn niemand arretieren. So stieg er freiwillig in den Kleinbus der Polizei und ließ sich durchs Fenster dankbar von den reichlich vor Ort vorhandenen Journalisten ablichten.
Als zweifelhafte Meldung entpuppte sich auch die Nachricht über das Klubradio. Denn dieses Radio wurde nicht von der Regierung zum „Verstummen“ gebracht und auch nicht verboten. Die bisherigen Nutzer der Klub­ra­dio-Frequenz hatten an einer Ausschreibung teilgenommen und bekamen zusammen mit anderen Bewerbern schlicht nicht den Zuschlag. Natürlich kann man hier mit einem Augenzwinkern gewisse kritische Fragen stellen, aber es muss zunächst einmal korrekt berichtet werden, dass es sich hier nicht um ein „Verbot“, sondern um eine ganz normale Aus­schreibung gehandelt hat, bei der es üblicherweise Gewinner und Unterlegene gibt.
Was nun die ungarische Qualitätszeitung Népszabadság, anbelangt, so vergisst die ZEIT zu erwähnen, dass dieses Blatt das Parteiblatt des ehemals kommunistischen Einparteienstaates war und darum auch jetzt immer noch eindeutig hinter den Sozialisten steht. Das ist absolut in Ordnung, nur es handelt sich hier eben nicht um eine unabhängige Qualitätszeitung. Zumal sie im Jahre 2003 auch noch in eine ziemlich unsaubere Affäre verwickelt war. Damals war der ungarisch-amerikanische Atomphysiker Edward Teller gerade verstorben, als angeblich via Fax ein Brief in der Redaktion der besagten Zeitung einging. Der Inhalt war in erster Linie politisch gewesen. In dem Brief behauptete Ed­ward Teller, dass die damalige Oppositions­par­tei Fidesz antidemokratische Mittel einsetzen würde, um die sozialistische Regierung anzugreifen. Nur konnte sich keiner so richtig vorstellen, welche antidemokratischen Mittel das denn sein könnten und weshalb Edward Teller seine letzten Stunden mit dem Ver­fassen eines solchen Briefes verbracht haben soll. Nichts desto trotz war die Aufregung groß. Der Brief wurde Tage lang als das politische Testament eines großen ungarischen Wissen­schaftlers gehandelt, bis sich herausstellte, er war gefälscht, gefälscht von der besagten ungarischen Qualitätszeitung.
Dabei gäbe es so viele tatsächliche Fragen zu erörtern. Wirtschaftspolitisch hatte Viktor Orbán versucht, ohne weitere Kredite des IWF einen eigenen Weg einzuschlagen. Da wird die Unga­rische Nationalbank wieder unter die Kontrolle des Staates gebracht, was ja eigentlich den Vor­stellungen der europäischen Linken entspricht. Aber auch bildungspolitisch werden zurzeit neue Weichen gestellt, es gibt eine neue Verfassung und ein neues Wahlrecht. Und was erfahre ich konkret darüber, welche tatsächlichen Infor­mationen werden mir geliefert und zur Debatte gestellt? Keine.
Stattdessen wird jedes neue Gesetz, jeder neue Erlass zum Anlass genommen die immer gleichen Hassparolen zum x-ten Male neu aufzubrühen. Vokabular, Semantik, die fehlende Argu­men­tationsstruktur, die vielen vagen Anspie­lungen, Vermutungen und Sug­ges­­tiv­formeln wie …natürlich hat …. wie sollte es auch anders sein … führen zu einer Art Monotonie, die ganz typisch ist für Propaganda. Und das Tragische bei all dem: Als Leser, Hörer oder Zuschauer fühle ich mich mittlerweile regelrecht hinters Licht geführt, und als Bürgerin, als „Citoyenne“ nicht mehr ernst genommen. Denn ich frage mich wirklich: Was passiert hier eigentlich?
Doch die Polemik gegen die amtierende Fidesz-Regierung ist nicht neu. Sie ist Teil eines Kampfes gegen alles Konservative. Schon die erste christdemokratische Regierungs­partei MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) unter dem verstorbenen Minister­präsidenten József Antall (1990-1994) war ständig dem Vorwurf ausgesetzt, populistisch und damit tendenziell auch faschistoid zu sein. Es reicht, hier ein wenig in den Archiven zu wühlen, um zu sehen: Der Grund­tenor der Unterstellungen war der gleiche wie heute, so lange bis das MDF mit der Faschis­muskeule zertrümmert war.


Seit 1998 steht für die sozialistische Gemeinde “Fidesz-Hassen” auf dem Programm
Seit 1998 steht für die gesamte sozialistische Gemeinde nun „Fidesz-Hassen“ und „Orbán-Bashing“ auf dem Programm. Da­mals hatte Viktor Orban zum ersten Mal die Wah­len gewonnen, es gab noch kein Medien­gesetz, kein neues Wahlgesetz, trotzdem war der ZEIT am 14. September 2000 klar: „Or­ban legt der Politik die Zügel an“. Da man ihm keine aktive Zu­sam­menarbeit mit den Rechtsextremisten nachweisen konnte, verwendete man eben vage An­spie­lungen, indem man etwa dem linksliberalen Miklós Vásár­hely den Satz in den Mund legte: Viktor Or­ban, ein hochbegabter Mann ohne Prinzipien. Ein Mann ohne Prinzipien also, der mit Rechtsextremisten liebäugelt und nur so tut, als wäre er ein Demokrat… da haben wir’s!


Dabei stößt man genau an diesem Punkt auf ein ganz zentrales Problem der ungarischen und im weiteren Sinne auch der osteuropäischen Gesellschaft. „Rechtsextrem“ wird in Mittel- und Osteuropa wörtlich verstanden, das heißt immer als eine radikale Form von konservativ. Das Wissen um eine antifaschistische Konservative gibt es nur in den Ländern des Westens, denn dort gab es tatsächlich konservative Anti­faschisten, wie General Charles de Gaulle oder Winston Churchill. In Ungarn herrschte zwischen 1920 und 1945 dagegen ein autoritär konservatives Regime, das sich mit Hitler-Deutsch­land verbündete und dann vom ihm überrannt wurde, was zur De­por­tation von über vierhunderttausend ungarischen Juden führte. Von daher ist der Übergang von konservativ-autoritär zu faschistisch in diesen Re­gio­nen ein gleitender gewesen, was das Ver­ständnis der Menschen von „rechts“ und von „rechtsextrem“ prägte und heute die Eta­b­lierung einer konservativen politischen Kraft erschwert. Denn seit 1944 gilt alles, was sich konservativ nennt, als potentiell „faschistoid“.

Nicht jeder Kommunist war Jude und nicht jeder Jude Kommunist
Hierin liegt auch der Schlüssel für den konstanten „Antisemitismus-Vorwurf“. Denn alles Konservative und damit grundsätzlich Faschis­toide steht nun im Gegensatz zu „liberal-jüdisch-ehemals-kommunistisch-jetzt sozialistisch“, was aber auch nur ein Klischee ist. Denn nicht jeder Kommunist war Jude und nicht jeder Jude war Kommunist. Trotzdem funktioniert dieses Kli­schee. Wenn nun nämlich jemand aus der konservativen Ecke etwas gegen diese „liberal-jüdische-ehemals-kommunistisch-jetzt-sozialistische“ Seite sagt oder einen anderen als Ex-Kom­mu­nisten beschimpft, ist er in diesem Sinne eben schon ein Antisemit. Nur: diese scheinbaren Antisemiten haben nichts zu tun mit der tatsächlich antisemitischen und rechtsextremistischen Jobbik-Ecke, die etwa mit furchtbaren Autoauf­klebern darauf hinweisen, dass ihr Auto „judenrein“ sei, die auf ihren Blogs gegen Juden und Romas hetzen und auf dem Land ethnische Konflikte schüren. Na, alles verstanden?
Fakt ist, dass auch heute nicht jeder ungarische Jude Sozialist ist und natürlich auch der Fidesz, wie jede andere Partei, jüdische Mit­glie­der hat, ebenso wie Vertreter der Roma-Minderheit. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusam­menhang auch, dass unter der ersten Fidesz-Regierung zwischen 1998 und 2002 der Holo­caust-Gedenktag eingeführt wurde und die Re­gierung nun dabei ist, einen Wieder­gut­ma­chungs­fonds für ehemalige ungarische Holo­caustopfer einzurichten.


Hochkomplexe ungarische Zusammenhänge werden instrumentalisiert
Ja, darum klage ich an – j’accuse – denn genau diese hochkomplexen ungarischen Zu­sam­men­hänge und die daraus resultierenden Miss­ver­ständnisse werden von bestimmten ex-reformkommunistischen Kreisen instrumentalisiert, um über die antifaschistische Schiene der westlichen Presse blind auf eine konservative Regierung einzuschlagen. Und die versucht sich nun mit ungeschickten Mediengesetzen zur Wehr zu setzen. Darin wird unter anderem eine „ausgeglichene Berichterstattung“ gefordert, was ja unter den beschriebenen Zuständen auch durchaus verständlich ist. Doch genau damit schließt sich der Teufelskreis von Diffamation und Reaktion und wird zur Self fulfilling prophecy. Denn jetzt kann man natürlich sagen: Seht her, der Fidesz beschneidet die Pressefreiheit.
Ja, ich klage an – j’accuse – all diejenigen, die sich dieser blind-aggressiven Propagan­da­ma­schine zur Verfügung stellen, die mit An­spie­lungen, Vermutungen und Halbwahr­heiten versuchen, eine Demokratie zu zerschmettern.
Und ich fordere: Hören Sie auf, auf Personen und Zusammenhänge einzudreschen, die Sie nicht wirklich kennen. Lesen Sie auch Kritiken kritisch. Jede niveauvolle Kritik, sei sie auch noch so scharf, verhöhnt nicht, sondern argumentiert und liefert zunächst einmal Fakten. Eine niveauvolle Kritik lässt immer beide Seiten zu Wort kommen und erläutert das Gedachte und das Gesagte – auch das des Gegners. Eine niveauvolle Kritik zwingt dem Leser keine Meinung auf, sondern erlaubt ihm, sich selbst seine Meinung zu bilden. Denn wer starre Feindbilder produziert, malt den Teufel an die Wand, den er selbst im Leib hat. Auch das hat uns die Geschichte gelehrt.
Ja, ich klage an, j’accuse et j’attends!


(Die Autorin arbeitet seit 1995 als freie Mittelosteuropa-Korrespondentin für alle öffentlich-rechtlichen Hörfunkanstalten in Deutsch­land. Derzeit lebt sie in Paris.)

Mutige Journalistin versus Medienlemminge
Für eine Freie Journalistin einen solchen Beitrag zurückzuziehen, um die Wahrheit nicht zu verzerren und damit auch längerfristig den Verlust einer Einkommensquelle zu riskieren, das erfordert Mut – ganz anders als die vorwiegende Lemming-Berichterstattung der Medien. Hut ab.“
Der WELT-Korrespondent Boris Kálnoky in einem Internetblog auf die Nachricht, dass Anat Kálmán im Herbst 2011 eine Reportage über die politischen Verhältnisse in Un­garn lieber zurückzog als sie im Sinne der bundesdeutschen Political Correctness zu verfälschen.



Anmerk. PPD:
Dank an Budapester Zeitung, die uns auch das Bildmaterial zur Verfügung stellte.
Auf den Fotos ist die größte Demonstration zu sehen, die seit der Wende in Ungarn stattfand. Tausende Menschen gingen FÜR DIE REGIERUNG am letzten Wochenende auf die Straße. Auch wenn das bestimmte Kreise in der EU nicht wahrhaben wollen. Die Wahrheit findet auf der Straße statt und dort stimmen die Menschen ab. Sichtbar für alle anderen Menschen, wenn deren Medien diese Sichtbarkeit zulassen.






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