Donnerstag, 20. September 2012

Die internationale Gemeinschaft muss dahin wirken, dass Israels Straflosigkeit aufhört. Israel muss seine Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht wahrnehmen



Kinder missbrauchen ist ein fester Bestandteil der israelischen Ideologie, sagt der Menschenrechtsverteidiger Rifat Odeh Kassis






Rifat Kassis (RK) ist der Direktor von  Defence  for Children International-Palestine Section (DCI) 2010 interviewte ich Kassis über  die Arbeit seiner Organisation und die spezielle Situation der palästinensischen Kinder, die unter Besatzung aufwachsen.
Ich interviewte ihn diese Woche noch mal über die Bekenntnisse israelischer Soldaten über die Misshandlung palästinensischer Kinder, wie dies in einer neuen Broschüre der israelischen Organisation ehemaliger Soldaten „Breaking the Silence(Das Schweigen brechen) steht. Die beunruhigenden Verletzungen  der Kinderrechte durch die Soldaten fanden zwischen 2005 und 2011 statt.

AN: Haben Sie den Bericht von Breaking the Silence  (BtS) gelesen, also die Zeugnisse über die Misshandlung von palästinensischen Kindern durch israelische Soldaten? Was war Ihr erster Eindruck, als sie ihn lasen?
RK: Als eine Organisation, die vor Ort arbeitet und als einer, der israelische Verletzungen der palästinensischen Kinderrechte beobachtet und dokumentiert, waren die Enthüllungen  des Berichtes von Breaking the Silence  nichts Neues.
Aber mein erster Eindruck war – da ich während meiner Arbeit  mit DCI-Palestine oft darüber nachdenke – dass diese Praktiken nicht nur die palästinensischen Kinder betreffen.
Vielmehr wirken sie sich nicht nur auf die israelischen Soldaten selbst aus, sondern auch auf die israelische Gesellschaft im Ganzen; am Ende des Tages kehren diese Soldaten nach Hause zurück und befassen sich mit ihren eigenen Kindern oder Kleinkindern als veränderte Männer und Frauen.
Sie werden unweigerlich von ihrer Rolle in der Besatzung beeinflusst und  sie mögen die Folgen auf ganz verschiedene Weisen an den Tag legen: sie werden z.B. mit ihren Kindern gewalttätiger umgehen oder  verhalten sich auf unterschiedliche und gegensätzliche Art und Weise, das sich auf ihr gesamtes psychologisches Wohlbefinden auswirkt.

Stimmen die von Breaking the Silence beschriebenen Praktiken überein mit den Daten und Beobachtungen von DCI-Palestine?
Ja. Bei DCI-Palestine dokumentieren  und berichten wir gewöhnlich  die Berichte der Kinder selbst, als Augenzeugen oder Opfer. Die Zeugenaussagen von BtS bestätigen die Geschichten, die die Kinder uns erzählen.
Fast alle Kinder informieren DCI, dass die israelischen Soldaten sie zu erschrecken und einzuschüchtern versuchen, um sie daran zu hindern, dass sie an irgendeiner Aktion gegen Israel teilnehmen oder schüchtern sie während der Haft oder auf dem Transport ein, um sie für das Verhörstadium vorzubereiten.
Andere informierten uns, dass Soldaten sie aus Langeweile mit Füßen getreten oder anders misshandelt haben, weil sie „etwas Spaß haben“ wollten. Ich denke auch an den Bericht eines jungen Kerls: beim Transport in ein Militärlager wurde dieser Junge von den Soldaten, die ihn empfingen mit dem Kopf gestoßen und mit Fäusten geschlagen, dann gefesselt, die Augen verbunden  und in den Hof gestellt, wo  andere Soldaten kamen, um ihn zu stoßen und anzuspucken. Er wurde auch während seines Verhörs mit einem Gewehr eingeschüchtert. „Können wir ihn erschießen?“ fragte ein Soldat einen anderen. „Ja, erschieße ihn“, erwiderte der andere. „Er ist ein Tier.“ „Tu es nicht!“ sagte ein dritter, „wir werden ihn in Ofer (einem Militärgefängnis) hinrichten.“ Nach unserer Dokumentation sind fast alle von der israelischen Armee verhafteten Kinder mindesten einer Form von Misshandlung ausgesetzt worden.

Außerdem dokumentierten DCI-Palestine und andere Organisationen zwischen 2004 und 2011 die Fälle von 17 palästinensischen Kindern, die als menschliche Schutzschilde für das israelische Militär missbraucht worden sind.
Für mich vervollständigt der Bericht von BtS die Berichte, die wir durchführen, indem er die Geschichten der Täter hinzufügt, die wir gewöhnlich nicht erhalten. Diese Berichte schenken den Narrationen der Opfer  noch mehr Glaubwürdigkeit.
Der Bericht gründet sich auf die Zeugenaussagen von 30 Soldaten.  Wie schätzen Sie die Information ein, die sie geben? Denken Sie, die Praxis ist allgemein?
Ich denke, diese Praktiken sind nicht nur willkürliche Handlungen von einigen wenigen Soldaten, die sich nicht an die Regeln halten. Sie sind ein fester Bestandteil der Ideologie des Staates und der israelischen Armee. Dieses Argument wird  von der Tatsache unterstützt, dass die israelischen Behörden selten mit rechtlichen Untersuchungen diesen Behauptungen nachgehen. Und wenn Fälle ans Licht kommen, reagiert der Staat  milde bis ausweichend, ja, nachlässig.
Zum Beispiel: als zwei israelische Soldaten überführt wurden, einen Neunjährigen während der Offensive auf den Gazastreifen als menschliches Schutzschild  zu missbrauchen – sie zwangen ihn mit gezogener Waffe nach Sprengkörpern zu suchen – hat das israelische Militär sie nur degradiert und suspendierte sie drei Monate für „unpassendes Verhalten“. Der Missbrauch palästinensischer Kinder ist nicht nur üblich, sondern wird systematisch ausgeführt und institutionell geschützt. Sie geschehen auf keinen Fall beiläufig.



Wie schätzen Sie die Auswirkung des Missbrauches von Kindern auf ihre Familien? Was sehen Sie bei Ihrer täglichen Beschäftigung, die Rechte der Kinder zu schützen?
Die Auswirkungen des Missbrauches von Kindern variieren von Kind zu Kind und hängen auch vom Alter des Kindes ab, was ihm tatsächlich geschah und von der Hilfe, die es von der Familie bekommt. Allgemein gesagt: fast alle Kinder, die  diese Art von Trauma durchmachen, sind tief betroffen.
In derselben Weise sind auch die Familien  betroffen. Die Abwesenheit des Kindes, das ständige Daran denken, dass es im Gefängnis sitzt  und dort Misshandlungen unterworfen ist, belastet die Familien sehr, und es ist für sie schwer, damit fertig zu werden .
Um diese  belastenden Probleme  zusammenzufassen, will ich eine Mutter von drei Kindern zitieren, die früher oder jetzt in Haft waren bzw. sind – und die in einem Bericht von Save the Children Sweden  und CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) zitiert wurde: „Es ist wie eine Seuche; sie kommen und nehmen unsere Kinder weg, um sie psychisch zu brechen. Und das wirkt sich auf die ganze Gesellschaft, ein ganzes Volk aus – ich denke, keiner von uns, dem die Kinder weggenommen werden, erholt sich von dem Trauma“.



Gibt es etwas, das Sie den Soldaten, die Zeugnis ablegten, sagen wollen?
Es ist sehr wichtig, über diese Misshandlungspraktiken zu reden  und die Wahrheit über die Besatzung aufzudecken. Was natürlich noch wichtiger ist, ist dass die Soldaten als erstes damit aufhören, Kinder zu misshandeln.
Diese Information  zu bekommen, ist für das Wohlbefinden der Soldaten selbst sehr wichtig, einschließlich derer, die Zeugen von zerstörerischen Praktiken sind und nicht in der Lage sind, diesem Tun ein Ende zu setzen. Diese Berichte könnten ein sehr bedeutender Teil unserer zukünftigen „Wahrheit- und Versöhnungs“-Ära sein, wo die Täter solche Information als ersten Schritt zur Wiederherstellung und Rehabilitation auf dem langen Weg zur Gerechtigkeit enthüllen.
Die israelische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft sollten sich bewusst sein, was die israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten tun und wie die Besatzung das palästinensische Leben zerstört – aber es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, wie Uri Avnery einmal sagte, wie dies die Israelis selbst korrumpiert. Wenn es um eine Besatzung geht, kommt keiner unverletzt davon.

Was muss getan werden, um die Misshandlungen zu beenden?
Es müsste Verantwortlichkeit geben. Die internationale Gemeinschaft muss dahin wirken, dass Israels Straflosigkeit aufhört. Israel muss seine Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht  wahrnehmen. Beide Seiten – die Opfer und Täter müssen über diese Misshandlungen sprechen und sie öffentlich machen – sodass die Öffentlichkeit sich dann wirklich und wirksam engagieren kann und Israel unter Druck setzt, dass es sich an das Völkerrecht hält.
BDS (Boykott, Deinvestition und Sanktionen)-Aktionen gehören zu den direktesten und bedeutendsten Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft übernehmen kann, um diese unterdrückerischen Praktiken zu stoppen und einen gerechten Frieden in unsere Region zu bringen.



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