Kinder
missbrauchen ist ein fester Bestandteil der israelischen Ideologie,
sagt der Menschenrechtsverteidiger Rifat Odeh Kassis
Rifat
Kassis (RK) ist der Direktor von Defence for Children
International-Palestine Section (DCI)
2010 interviewte ich
Kassis über die Arbeit seiner Organisation und die spezielle
Situation der palästinensischen Kinder, die unter Besatzung
aufwachsen.
Ich
interviewte ihn diese Woche noch mal über die Bekenntnisse
israelischer Soldaten über die Misshandlung palästinensischer
Kinder, wie dies in einer neuen Broschüre der
israelischen Organisation ehemaliger Soldaten „Breaking
the Silence“
(Das
Schweigen brechen) steht. Die beunruhigenden Verletzungen der
Kinderrechte durch die Soldaten fanden zwischen 2005 und 2011 statt.
AN:
Haben Sie den Bericht von Breaking the Silence (BtS) gelesen,
also die Zeugnisse über die Misshandlung von palästinensischen
Kindern durch israelische Soldaten? Was war Ihr erster Eindruck, als
sie ihn lasen?
RK:
Als eine Organisation, die vor Ort arbeitet und als einer, der
israelische Verletzungen der palästinensischen Kinderrechte
beobachtet und dokumentiert, waren die Enthüllungen des
Berichtes von Breaking the Silence nichts Neues.
Aber
mein erster Eindruck war – da ich während meiner Arbeit mit
DCI-Palestine oft darüber nachdenke – dass diese Praktiken nicht
nur die palästinensischen Kinder betreffen.
Vielmehr
wirken sie sich nicht nur auf die israelischen Soldaten selbst aus,
sondern auch auf die israelische Gesellschaft im Ganzen; am Ende des
Tages kehren diese Soldaten nach Hause zurück und befassen sich mit
ihren eigenen Kindern oder Kleinkindern als veränderte Männer und
Frauen.
Sie
werden unweigerlich von ihrer Rolle in der Besatzung beeinflusst und
sie mögen die Folgen auf ganz verschiedene Weisen an den Tag legen:
sie werden z.B. mit ihren Kindern gewalttätiger umgehen oder
verhalten sich auf unterschiedliche und gegensätzliche Art und
Weise, das sich auf ihr gesamtes psychologisches Wohlbefinden
auswirkt.
Stimmen
die von Breaking the Silence beschriebenen Praktiken überein mit den
Daten und Beobachtungen von DCI-Palestine?
Ja.
Bei DCI-Palestine dokumentieren und berichten wir gewöhnlich
die Berichte der Kinder selbst, als Augenzeugen oder Opfer. Die
Zeugenaussagen von BtS bestätigen die Geschichten, die die Kinder
uns erzählen.
Fast
alle Kinder informieren DCI, dass die israelischen Soldaten sie zu
erschrecken und einzuschüchtern versuchen, um sie daran zu hindern,
dass sie an irgendeiner Aktion gegen Israel teilnehmen oder
schüchtern sie während der Haft oder auf dem Transport ein, um sie
für das Verhörstadium vorzubereiten.
Andere
informierten uns, dass Soldaten sie aus Langeweile mit Füßen
getreten oder anders misshandelt haben, weil sie „etwas Spaß
haben“ wollten. Ich denke auch an den Bericht eines jungen Kerls:
beim Transport in ein Militärlager wurde dieser Junge von den
Soldaten, die ihn empfingen mit dem Kopf gestoßen und mit Fäusten
geschlagen, dann gefesselt, die Augen verbunden und in den Hof
gestellt, wo andere Soldaten kamen, um ihn zu stoßen und
anzuspucken. Er wurde auch während seines Verhörs mit einem Gewehr
eingeschüchtert. „Können wir ihn erschießen?“ fragte ein
Soldat einen anderen. „Ja, erschieße ihn“, erwiderte der andere.
„Er ist ein Tier.“ „Tu es nicht!“ sagte ein dritter, „wir
werden ihn in Ofer (einem Militärgefängnis) hinrichten.“ Nach
unserer Dokumentation sind
fast alle von der israelischen Armee verhafteten Kinder mindesten
einer Form von Misshandlung ausgesetzt worden.
Außerdem
dokumentierten DCI-Palestine und andere Organisationen zwischen 2004
und 2011 die Fälle von 17 palästinensischen Kindern, die als
menschliche Schutzschilde für das israelische Militär missbraucht
worden sind.
Für
mich vervollständigt der Bericht von BtS die Berichte, die wir
durchführen, indem er die Geschichten der Täter hinzufügt, die wir
gewöhnlich nicht erhalten. Diese Berichte schenken den Narrationen
der Opfer noch mehr Glaubwürdigkeit.
Der
Bericht gründet sich auf die Zeugenaussagen von 30 Soldaten.
Wie schätzen Sie die Information ein, die sie geben? Denken Sie, die
Praxis ist allgemein?
Ich
denke, diese Praktiken sind nicht nur willkürliche Handlungen von
einigen wenigen Soldaten, die sich nicht an die Regeln halten. Sie
sind ein fester Bestandteil der Ideologie des Staates und der
israelischen Armee. Dieses Argument wird von der Tatsache
unterstützt, dass die israelischen Behörden selten mit rechtlichen
Untersuchungen diesen Behauptungen nachgehen. Und wenn Fälle ans
Licht kommen, reagiert der Staat milde bis ausweichend, ja,
nachlässig.
Zum
Beispiel: als zwei israelische Soldaten überführt wurden, einen
Neunjährigen während der Offensive auf den Gazastreifen als
menschliches Schutzschild zu missbrauchen – sie zwangen ihn
mit gezogener Waffe nach Sprengkörpern zu suchen – hat das
israelische Militär sie nur degradiert und suspendierte sie drei
Monate für „unpassendes Verhalten“. Der Missbrauch
palästinensischer Kinder ist nicht nur üblich, sondern wird
systematisch ausgeführt und institutionell geschützt. Sie geschehen
auf keinen Fall beiläufig.
Wie
schätzen Sie die Auswirkung des Missbrauches von Kindern auf ihre
Familien? Was sehen Sie bei Ihrer täglichen Beschäftigung, die
Rechte der Kinder zu schützen?
Die
Auswirkungen des Missbrauches von Kindern variieren von Kind zu Kind
und hängen auch vom Alter des Kindes ab, was ihm tatsächlich
geschah und von der Hilfe, die es von der Familie bekommt. Allgemein
gesagt: fast alle Kinder, die diese Art von Trauma durchmachen,
sind tief betroffen.
In
derselben Weise sind auch die Familien betroffen. Die
Abwesenheit des Kindes, das ständige Daran denken, dass es im
Gefängnis sitzt und dort Misshandlungen unterworfen ist,
belastet die Familien sehr, und es ist für sie schwer, damit fertig
zu werden .
Um
diese belastenden Probleme zusammenzufassen, will ich
eine Mutter von drei Kindern zitieren, die früher oder jetzt in Haft
waren bzw. sind – und die in einem Bericht von Save the Children
Sweden und CVJM (Christlicher Verein Junger Menschen) zitiert
wurde: „Es ist wie eine Seuche; sie kommen und nehmen unsere Kinder
weg, um sie psychisch zu brechen. Und das wirkt sich auf die ganze
Gesellschaft, ein ganzes Volk aus – ich denke, keiner von uns, dem
die Kinder weggenommen werden, erholt sich von dem Trauma“.
Gibt
es etwas, das Sie den Soldaten, die Zeugnis ablegten, sagen wollen?
Es ist
sehr wichtig, über diese Misshandlungspraktiken zu reden und
die Wahrheit über die Besatzung aufzudecken. Was natürlich noch
wichtiger ist, ist dass die Soldaten als erstes damit aufhören,
Kinder zu misshandeln.
Diese
Information zu bekommen, ist für das Wohlbefinden der Soldaten
selbst sehr wichtig, einschließlich derer, die Zeugen von
zerstörerischen Praktiken sind und nicht in der Lage sind, diesem
Tun ein Ende zu setzen. Diese Berichte könnten ein sehr bedeutender
Teil unserer zukünftigen „Wahrheit- und Versöhnungs“-Ära sein,
wo die Täter solche Information als ersten Schritt zur
Wiederherstellung und Rehabilitation auf dem langen Weg zur
Gerechtigkeit enthüllen.
Die
israelische Gesellschaft und die internationale Gemeinschaft sollten
sich bewusst sein, was die israelischen Soldaten in den besetzten
Gebieten tun und wie die Besatzung das palästinensische Leben
zerstört – aber es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, wie
Uri Avnery einmal sagte, wie dies die Israelis selbst korrumpiert.
Wenn es um eine Besatzung geht, kommt keiner unverletzt davon.
Was
muss getan werden, um die Misshandlungen zu beenden?
Es
müsste Verantwortlichkeit geben. Die internationale Gemeinschaft
muss dahin wirken, dass Israels Straflosigkeit aufhört. Israel muss
seine Verpflichtungen gegenüber dem Völkerrecht wahrnehmen.
Beide Seiten – die Opfer und Täter müssen über diese
Misshandlungen sprechen und sie öffentlich machen – sodass die
Öffentlichkeit sich dann wirklich und wirksam engagieren kann und
Israel unter Druck setzt, dass es sich an das Völkerrecht hält.
BDS
(Boykott, Deinvestition und Sanktionen)-Aktionen gehören zu den
direktesten und bedeutendsten Maßnahmen, die die internationale
Gemeinschaft übernehmen kann, um diese unterdrückerischen Praktiken
zu stoppen und einen gerechten Frieden in unsere Region zu bringen.
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