Dienstag, 25. September 2012

Ein Brief an die israelischen Soldaten von Sabra und Schatila



Übersetzt von Ellen Rohlfs


Am 30. Jahrestag des Sabra und Schatila-Massakers erinnert sich eine jüdisch-amerikanische Krankenschwester, die in einem Beiruter Krankenhaus arbeitete, an die erste Begegnung mit IDF-Soldaten. Heute bittet sie sie darum, am jüdischen Neujahrstag einige Momente daran zu denken.

An die IDF-Soldaten, die in Sabra und Schatila waren
Der September 2012 markiert den 30. Jahrestag des Massakers im Sabra und Schatila-Flüchtlingslager in Beirut. 1982 fielen die letzten Stunden dieses schrecklichen Ereignisses mit dem ersten Tag von Rosh Hashana zusammen. In diesem Jahr ist es der erste Tag des jüdischen Neuen Jahres, der 16. September – als das Töten begann.

Ich begegnete euch 1982. Ich arbeitete als Krankenschwester in einem Krankenhaus in Sabra. Ich kam nach Israels Invasion in den Libanon, bald nachdem Israel sich weigerte, Nahrungsmittel, Wasser und lebenswichtige Medikamente in die belagerte Stadt gelangen zu lassen. Ich war eine Vertreterin des Humanitätsgedankens. Moralisch konnte ich nicht zuschauen und während der Zerstörung einer Stadt und dem Morden und Verletzen seiner Bewohner schweigen.

Nach der Ermordung des gerade gewählten Präsidenten des Libanon Mitte September brach die Hölle los. Ich hörte, wie israelische Flugzeuge über den Lagern die Schallgrenze durchbrachen, hörte die andauernde Artillerie schießen und hielt mich fern von zersplitterten Fenster. Fast 48 Stunden, vom 16.-18. September versuchte ich, das Leben jener zu retten, die ins Krankenhaus gebracht wurden. Viele hatten schwere Wunden, da sie aus nächster Nähe angeschossen worden waren. Ich kümmerte mich um Hunderte, die vor Angst und Schrecken Schutz im Krankenhaus suchten. Ich versuchte, die halsabschneidenden Gesten der Frauen zu verstehen. Ich beobachtete vom obersten Stockwerk des Krankenhauses, wie Leuchtraketen in die Luft abgeschossen wurden. Sie erleuchteten Teile des Lagers, das Geräusch von automatischen Waffen folgte nach jeder Illumination.

Der erste Tag des Jahres 5743 war von der Ankunft der Phalangisten markiert – ihr, die ihr dort wart, erinnert euch an diese extremen Milizen – vor dem Krankenhaus. Sie befahlen den internationalen Krankenpflegern sich zu versammeln. Sie ließen uns die Hauptstraße des Lagers hinuntergehen, vorbei an Leichen, an einem Bulldozer mit hebräischen Buchstaben, der Erde über eine große Fläche deckte, wo einmal Wohnungen standen Viele der Milizen benützten Walkie-Talkies. An einer Stelle ließen uns die Soldaten an einer von Kugeln durchlöcherten Wand aufstellen und richteten ihre Gewehre auf uns. Aber nach einigen Minuten taten sie sie nach unten und ließen uns aus dem Lager gehen.

Sie führten uns eine Straße entlang zu einem verlassenen UN-Gebäude. Im Hof sah ich Teile von IDF-Uniformen, weggeworfene Armeerationen, und die israelische Zeitung Yedioth Ahronot aus den letzten Tagen. Nachdem man uns ausgefragt hatte, führten sie uns über die Straße zum IDF-Kommandoposten. Der war in einem fünfstöckigen Gebäude, von dem man die Lager rund herum überschauen konnte; wir sahen Soldaten, die mit Fernrohren in die Lager schauten. Hier war es, wo ich euch das erste Mal begegnete.

Einige von Euch trugen eine Kipa und einen Gebetsschal und lasen in einem Gebetsbuch.

Es war am Vormittag, vielleicht rezitiertet ihr das Amidah /Gebet, das aus vielen Gebeten besteht: in einem ging es um Frieden, Güte, Segen, Freundlichkeit und Mitleid. Einer bot einer Krankenschwester ein Stück sorgfältig eingepackten Honigkuchen an – vielleicht hat ihn deine Mutter dir während deines langen Militärdienstes mitgegeben. Traditionell beginnen wir das Neue Jahr damit, dass wir etwas Süßes essen – gewöhnlich Honigkuchen – mit den Wünschen für ein gutes, süßes Jahr. Ich habe diese Geste nie vergessen. Aber wenn ich zurückdenke, so fühlte ich mich nicht wohl dabei, das jüdische Neue Jahr zu feiern, während Tausende von Unschuldigen unten in Massengräbern lagen. Einer von Euch sagte „Heute ist Weihnachten.“ Ich verstand, was er sagen wollte. Für uns beginnt an diesem Tag zehn Tage der Rückschau und Reue, wenn das Buch des Lebens geöffnet wird und das Schicksal des nächsten Jahres besiegelt ist.

Im September werde ich nach Beirut zurückkehren, wie ich es jedes Jahr tat – um zu erinnern, um zu gedenken, um die Massengräber zu besuchen, mich mit Überlebenden zu treffen, um neben denen zu stehen, die ihre Liebsten verloren haben und um Zeugnis abzulegen.

Ich frage mich, was während der letzten drei Jahrzehnte mit euch geschehen ist. Ich weiß, dass Emil Grunzweig, der ein Peace-Now-Aktivist im Februar 1983 während einer Demo - einer der größten in der israelischen Geschichte – ermordet worden ist. Er hatte Ministerpräsident Begin gebeten, die Empfehlung der Kahan-Kommission anzunehmen, dass das Massaker untersucht werden solle. Lt, Avi Grabovsky legte vor der Kommission Zeugnis ab. Ari Folman machte einen Film „Waltz with Bashir“.

Wie ist es mit dem Rest von Euch? Viele von euch haben Kinder, vielleicht sogar Enkelkinder. Lebt ihr in gemütlichen Wohnungen; habt ihr ein Gefühl von Sicherheit in euren Häusern und Vororten? Seid ihr gut ernährt? Habt ihr eine gute Schulausbildung erhalten und verdient nun einen guten Lebensunterhalt und seid gut krankenversichert? Freut ihr euch eures Lebens? Was gebt ihr eurer nächsten Generation weiter?

Lasst mich euch erzählen, wie das Leben der Palästinenser aussieht, das ich, seit ich in Sabra und Schatila lebte, kenne. Mehr als 9000 Flüchtlinge leben auf einem Quadratkilometer. Die meisten Wohnungen sind überbelegt, sind feucht, schlecht belüftet, einige haben Blechdächer. Offene Abwasserkanäle laufen durch das Lager. Die Bevölkerung ist Feindseligkeiten verschiedener politischer Fraktionen ausgesetzt. Den Flüchtlingen wird das Recht verweigert, in den meisten Jobs zu arbeiten. Verarmt sind sie von einer überarbeiteten und unterfinanzierten UNRWA abhängig, was die Grundgesundheitsdienste und die Schulbildung betreffen. Ungenügende Ernährung, chronische Krankheiten und schlechte Gesundheit sind normal. Den Kindern wird keine gute Schulbildung zuteil. Viele Flüchtlinge sind niemals außerhalb des Lagers gewesen. Die dritte und vierte Generation ist hier geboren worden und sterben in diesen Lagern. Es ist trostlos und entsetzlich. Die Zukunft gibt wenig Hoffnung für irgendeine Verbesserung in ihrem Leben.

Ich weiß, dass nicht ihr für die Lebensweise der palästinensischen Flüchtlinge anzuklagen seid. Ich bitte euch nur, ein paar Minuten während eures heiligsten Tages zu nehmen, um an die Flüchtlinge in Sabra und Schatila zu denken. Ich denke an euch und an die Flüchtlinge währen dieser Tage und wünsche uns allen eine bessere Zukunft.

Dem Soldaten mit dem Honigkuchen bis zu dem, der mir etwas von seinem Weihnachten sagte und den anderen L’Shana Tovah 5773 – ein gutes neues Jahr!

Danke Tlaxcala
Quelle: http://972mag.com/a-letter-to-the-idf-soldiers-at-sabra-and-shatila/55847/
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 14/09/2012
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht: http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=8256

Keine Kommentare: