Am
30. Jahrestag des Sabra und Schatila-Massakers erinnert sich eine
jüdisch-amerikanische Krankenschwester, die in einem Beiruter
Krankenhaus arbeitete, an die erste Begegnung mit IDF-Soldaten. Heute
bittet sie sie darum, am jüdischen Neujahrstag einige Momente daran
zu denken.
An
die IDF-Soldaten, die in Sabra und Schatila waren
Der
September 2012 markiert den 30. Jahrestag des Massakers im Sabra und
Schatila-Flüchtlingslager in Beirut. 1982 fielen die letzten Stunden
dieses schrecklichen Ereignisses mit dem ersten Tag von Rosh Hashana
zusammen. In diesem Jahr ist es der erste Tag des jüdischen Neuen
Jahres, der 16. September – als das Töten begann.
Ich
begegnete euch 1982. Ich arbeitete als Krankenschwester in einem
Krankenhaus in Sabra. Ich kam nach Israels Invasion in den
Libanon, bald nachdem Israel sich weigerte, Nahrungsmittel, Wasser
und lebenswichtige Medikamente in die belagerte Stadt gelangen zu
lassen. Ich war eine Vertreterin des Humanitätsgedankens. Moralisch
konnte ich nicht zuschauen und während der Zerstörung einer
Stadt und dem Morden und Verletzen seiner Bewohner schweigen.
Nach
der Ermordung des gerade gewählten Präsidenten des Libanon Mitte
September brach die Hölle los. Ich hörte, wie israelische Flugzeuge
über den Lagern die Schallgrenze durchbrachen, hörte die andauernde
Artillerie schießen und hielt mich fern von zersplitterten Fenster.
Fast 48 Stunden, vom 16.-18. September versuchte ich, das Leben jener
zu retten, die ins Krankenhaus gebracht wurden. Viele hatten schwere
Wunden, da sie aus nächster Nähe angeschossen worden waren.
Ich kümmerte mich um Hunderte, die vor Angst und Schrecken Schutz im
Krankenhaus suchten. Ich versuchte, die halsabschneidenden
Gesten der Frauen zu verstehen. Ich beobachtete vom obersten
Stockwerk des Krankenhauses, wie Leuchtraketen in die Luft
abgeschossen wurden. Sie erleuchteten Teile des Lagers, das Geräusch
von automatischen Waffen folgte nach jeder Illumination.
Der
erste Tag des Jahres 5743 war von der Ankunft der Phalangisten
markiert – ihr, die ihr dort wart, erinnert euch an diese extremen
Milizen – vor dem Krankenhaus. Sie befahlen den internationalen
Krankenpflegern sich zu versammeln. Sie ließen uns die Hauptstraße
des Lagers hinuntergehen, vorbei an Leichen, an einem Bulldozer mit
hebräischen Buchstaben, der Erde über eine große Fläche deckte,
wo einmal Wohnungen standen Viele der Milizen benützten
Walkie-Talkies. An einer Stelle ließen uns die Soldaten an einer von
Kugeln durchlöcherten Wand aufstellen und richteten ihre Gewehre auf
uns. Aber nach einigen Minuten taten sie sie nach unten und ließen
uns aus dem Lager gehen.
Sie
führten uns eine Straße entlang zu einem verlassenen UN-Gebäude.
Im Hof sah ich Teile von IDF-Uniformen, weggeworfene
Armeerationen, und die israelische Zeitung Yedioth Ahronot
aus den letzten Tagen. Nachdem man uns ausgefragt hatte, führten sie
uns über die Straße zum IDF-Kommandoposten. Der war in einem
fünfstöckigen Gebäude, von dem man die Lager rund herum
überschauen konnte; wir sahen Soldaten, die mit Fernrohren in die
Lager schauten. Hier war es, wo ich euch das erste Mal begegnete.
Einige
von Euch trugen eine Kipa und einen Gebetsschal und lasen in
einem Gebetsbuch.
Es war
am Vormittag, vielleicht rezitiertet ihr das Amidah /Gebet, das aus
vielen Gebeten besteht: in einem ging es um Frieden, Güte, Segen,
Freundlichkeit und Mitleid. Einer bot einer Krankenschwester ein
Stück sorgfältig eingepackten Honigkuchen an – vielleicht
hat ihn deine Mutter dir während deines langen Militärdienstes
mitgegeben. Traditionell beginnen wir das Neue Jahr damit, dass wir
etwas Süßes essen – gewöhnlich Honigkuchen – mit den Wünschen
für ein gutes, süßes Jahr. Ich habe diese Geste nie
vergessen. Aber wenn ich zurückdenke, so fühlte ich mich nicht
wohl dabei, das jüdische Neue Jahr zu feiern, während Tausende
von Unschuldigen unten in Massengräbern lagen. Einer von Euch sagte
„Heute ist Weihnachten.“ Ich verstand, was er sagen wollte. Für
uns beginnt an diesem Tag zehn Tage der Rückschau und Reue, wenn das
Buch des Lebens geöffnet wird und das Schicksal des nächsten Jahres
besiegelt ist.
Im
September werde ich nach Beirut zurückkehren, wie ich es jedes Jahr
tat – um zu erinnern, um zu gedenken, um die Massengräber zu
besuchen, mich mit Überlebenden zu treffen, um neben denen zu
stehen, die ihre Liebsten verloren haben und um Zeugnis abzulegen.
Ich
frage mich, was während der letzten drei Jahrzehnte mit euch
geschehen ist. Ich weiß, dass Emil Grunzweig, der ein
Peace-Now-Aktivist im Februar 1983 während einer Demo - einer
der größten in der israelischen Geschichte – ermordet worden ist.
Er hatte Ministerpräsident Begin gebeten, die Empfehlung der
Kahan-Kommission anzunehmen, dass das Massaker untersucht werden
solle. Lt, Avi Grabovsky legte vor der Kommission Zeugnis ab. Ari
Folman machte einen Film „Waltz with Bashir“.
Wie
ist es mit dem Rest von Euch? Viele von euch haben Kinder, vielleicht
sogar Enkelkinder. Lebt ihr in gemütlichen Wohnungen; habt ihr ein
Gefühl von Sicherheit in euren Häusern und Vororten? Seid ihr gut
ernährt? Habt ihr eine gute Schulausbildung erhalten und verdient
nun einen guten Lebensunterhalt und seid gut krankenversichert? Freut
ihr euch eures Lebens? Was gebt ihr eurer nächsten Generation
weiter?
Lasst
mich euch erzählen, wie das Leben der Palästinenser aussieht, das
ich, seit ich in Sabra und Schatila lebte, kenne. Mehr als 9000
Flüchtlinge leben auf einem Quadratkilometer. Die meisten Wohnungen
sind überbelegt, sind feucht, schlecht belüftet, einige haben
Blechdächer. Offene Abwasserkanäle laufen durch das Lager. Die
Bevölkerung ist Feindseligkeiten verschiedener politischer
Fraktionen ausgesetzt. Den Flüchtlingen wird das Recht verweigert,
in den meisten Jobs zu arbeiten. Verarmt sind sie von einer
überarbeiteten und unterfinanzierten UNRWA abhängig, was die
Grundgesundheitsdienste und die Schulbildung betreffen. Ungenügende
Ernährung, chronische Krankheiten und schlechte Gesundheit sind
normal. Den Kindern wird keine gute Schulbildung zuteil. Viele
Flüchtlinge sind niemals außerhalb des Lagers gewesen. Die dritte
und vierte Generation ist hier geboren worden und sterben in diesen
Lagern. Es ist trostlos und entsetzlich. Die Zukunft gibt wenig
Hoffnung für irgendeine Verbesserung in ihrem Leben.
Ich
weiß, dass nicht ihr für die Lebensweise der palästinensischen
Flüchtlinge anzuklagen seid. Ich bitte euch nur, ein paar Minuten
während eures heiligsten Tages zu nehmen, um an die Flüchtlinge in
Sabra und Schatila zu denken. Ich denke an euch und an die
Flüchtlinge währen dieser Tage und wünsche uns allen eine bessere
Zukunft.
Dem
Soldaten mit dem Honigkuchen bis zu dem, der mir etwas von seinem
Weihnachten sagte und den anderen L’Shana
Tovah 5773
– ein gutes neues Jahr!
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