Donnerstag, 17. März 2011
„Es gibt Wasserstoffexplosionen, wie in Brunsbüttel 2001“
Jürgen Trittin (GRÜNE-Fraktionsvorsitzender) hat im Bundestag zur „Lage in Japan“ eine bemerkenswerte Rede gehalten die wir Ihnen nachfolgend veröffentlichen:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich, wie viele Grüne, kämpfe seit 30 Jahren gegen die Atomenergie. Wir haben in Brokdorf demonstriert, wir haben in Grohnde im Wendland demonstriert. Wir haben in einem sehr schwierigen Kompromiss ein Ausstiegsgesetz auf den Weg gebracht, das zum ersten Mal in der Geschichte bis dahin unbegrenzte Laufzeiten endlich begrenzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aufgrund dieses Gesetzes sind die Kraftwerke in Stade, Obrigheim und Mülheim-Kärlich vom Netz gegangen, in diesem Jahr wären die Kraftwerke Neckarwestheim 1, Biblis A und Isar 1 dazugekommen. Sie wären endgültig stillgelegt worden und müssten nicht nur drei Monate pausieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Für dieses Engagement haben wir einen Grund: Eine Technik, bei der nichts schiefgehen darf, ist nicht verantwortbar, sie ist nicht menschengerecht; denn Menschen und ihre Technik machen Fehler. Ich sage Ihnen dennoch: Ich hätte nie geglaubt, dass in einem Land wie Japan parallel in sechs Reaktorblöcken diese Anlagen außer Kontrolle geraten können. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir in drei Reaktorblöcken heute von einer Kernschmelze ausgehen müssen. Ich hätte auch, ehrlich gesagt, nicht geglaubt, dass wir in eine Situation geraten, in der drei Brennelementelager nicht mehr zu kühlen sind und sich entzünden. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass nach Hiroshima Japan mit Fukushima eine zweite atomare Katastrophe droht. Deswegen muss unser Mitgefühl den Menschen gelten. Wir sollten jenen Tapferen, die unter Einsatz ihres Lebens das ist wörtlich zu nehmen: unter Einsatz ihres Lebens zu retten versuchen, was vielleicht nicht mehr zu retten ist, danken.
(Beifall im ganzen Hause)
Dieser Unfall ist eine tiefe Zäsur; die Menschen empfinden das so. Vor zwei Tagen haben spontan über 100 000 Menschen an Mahnwachen teilgenommen. Aber auch in ganz anderen Kreisen spielt das plötzlich eine Rolle. Ich bekomme monatlich von einem Finanzberater ein Finanztelegramm in Form einer E-Mail. Was passiert im März? Da, wo sonst für langfristige Wertpapiere geworben wird, prangt ein Aufkleber, auf dem steht: "Atomkraft? Nein danke". Und: Tun Sie was für den Ausstieg wechseln Sie Ihren Stromanbieter. Das zeigt, es gibt in diesem Lande heute einen breiten Konsens, auszusteigen, und zwar wirklich, und es gibt einen Konsens, schneller auszusteigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Diesen Konsens spüren auch Sie. Ich glaube, Herr Mappus hat gesagt, er sei in einem emotionalen Ausnahmezustand. In dieser Situation gehört alles auf den Prüfstand. Dazu gehört auch, dass wir Risiken realistisch betrachten und darstellen. Den Menschen müssen wir sagen: Ja, es ist wahr, dass in Deutschland Erdbeben dieser Größenordnung nicht wahrscheinlich sind. Aber es ist auch wahr, dass das im Rheingraben stehende AKW Biblis über Jahre nicht gegen die dort möglichen Erdstöße ausgelegt war, weil über 1 000 armdicke Dübel falsch montiert waren. Wir haben das nicht mehr durchgehen lassen. Wir haben die hessische Atomaufsicht gezwungen, diesen Missstand endlich zu beenden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Von wegen Sicherheitsrabatt!
Wir alle mussten jetzt lernen, dass man Kühlwasser korrekt mit Bor versetzen muss. Das war im Atomkraftwerk Philippsburg 1 nicht die Regel. Ich musste damals per Bundesaufsicht die baden-württembergische Aufsicht zwingen, dieses AKW so lange vom Netz zu nehmen, bis EnBW endlich für ein richtiges Sicherheitsmanagement gesorgt hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es gibt Wasserstoffexplosionen, wie in Brunsbüttel 2001. Es gibt auch ein Verhalten wie das von Vattenfall, das geglaubt hat, es könne den Reaktor einfach weiter betreiben, bis es von der Aufsicht gezwungen wurde, ihn vom Netz zu nehmen.
Meine Damen und Herren, verehrte Frau Bundeskanzlerin, die Kraftwerke, von denen ich hier rede, nennen Sie "die sichersten Atomkraftwerke der Welt".
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was glauben Sie eigentlich, was die Schweizer oder die schwedische Regierung über ihre Kraftwerke sagen? Was glauben Sie, hätte der japanische Ministerpräsident noch letzte Woche über seine Kraftwerke gesagt? Sie überschätzen sich und Ihre eigenen Anlagen, wenn Sie so über die realistischen Risiken in deutschen Atomkraftwerken hinwegreden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie haben diesen Altanlagen ohne Sicherheitsüberprüfung, ohne Nachrüstauflage, mit abgesenkten Sicherheitsstandards in Ihrem Herbst der Entscheidungen acht Jahre Laufzeitverlängerung gegeben. Lieber Herr Kauder, natürlich unterscheiden Sie zwischen Alt und Neu. Schauen Sie einmal in das von Ihnen verabschiedete Gesetz: Die Anlagen der einen Kategorie haben eine Laufzeitverlängerung von 14 Jahren bekommen, und die Anlagen der anderen Kategorie haben eine von 8 Jahren bekommen. Auch Herr Kauder unterscheidet zwischen Alt und Neu, aber nur bei der Auswahl der Geschenke für die Atomindustrie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir wollen, dass diese Kraftwerke plus Krümmel jetzt und endgültig und nicht vorübergehend vom Netz gehen. Das ist die Voraussetzung für jedes ernsthafte Nachdenken.
Es ist nicht ernsthaft, Frau Bundeskanzlerin, zu behaupten, man schaffe ein dreimonatiges Moratorium. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich jemals in die Situation komme, dem Kollegen Heinrich Sander von der FDP zuzustimmen. Er hat recht: Eine ernsthafte Sicherheitsüberprüfung von Anlagen ist in drei Monaten nicht möglich; dafür braucht man ein bis anderthalb Jahre. Auf welcher Grundlage wollen Sie vorgehen? Wollen Sie vorgehen auf der Grundlage Ihrer mit der letzten Atomgesetznovelle abgesenkten Sicherheitsstandards? Sollen dann nur die angemessenen und geeigneten Maßnahmen gelten, oder soll dabei der Stand von Wissenschaft und Technik gelten?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Wenn dieser gelten soll, lieber Herr Röttgen, dann müssen Sie das kerntechnische Regelwerk in Kraft setzen. Das ist übrigens ganz einfach: Sie müssen ein Dokument unterschreiben;
(Sigmar Gabriel (SPD): So ist es!)
das kommt dann in den Bundesanzeiger. Sie müssen weder die Bundeskanzlerin noch Herrn Brüderle noch Herrn Fuchs fragen. Sie können es einfach machen. Es ist allein Ihre Kompetenz, aber es ist auch Ihre Verantwortung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Deswegen sage ich zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben davon gesprochen: Wir brauchen einen Ausstieg mit Augenmaß. - Ihr Regierungssprecher hat das "Augenmaß" präzisiert. Herr Seibert sagt: Selbstverständlich gilt das Energiekonzept weiter, und deswegen laufen die Anlagen bis 2040. Das ist Ausstieg mit Augenmaß?
Das ist übrigens noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Wenn die Betreiber der Altkraftwerke und das steht allein in ihrem Belieben diese Laufzeiten auf die neueren Anlagen übertragen, dann reden wir von Laufzeiten bis 2050. Das ist kein Ausstieg mit Augenmaß; das ist die Bestandsgarantie für eine gescheiterte Technik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Ja, wir müssen raus, und zwar schneller. Das ist unbequem. Das ist unbequem für Sie, weil Sie Ihre Blockade der Windenergie in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg endlich aufgeben müssen, wo weniger als 1 Prozent des Stroms aus Windenergie erzeugt wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Es ist unbequem für die FDP, für Herrn Lindner und auch für manche Sozialdemokraten, die meinen, damit könnte man wieder auf die Kohle setzen. Kohle wird den Ausbau erneuerbarer Energien jedoch ausbremsen. Deswegen geht das nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist unbequem für die Grünen, weil es jetzt nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie von mehr Strom aus Biogas geht. Es ist unbequem für uns alle, weil wir Leitungen bauen und Pumpspeicherkraftwerke errichten müssen.
(Zuruf von der FDP: Aha!)
- Ja. - Wir alle werden uns mit unseren Ortsverbänden darüber auseinandersetzen müssen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Dann aber los!)
- Auch Sie im Thüringer Wald mit Ihren FDP-Ratsfraktionen, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Trittin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Es wird nicht billiger. Es kostet mehr. Wir müssen andererseits aber auch klar sagen: Was ist das gegen die Kosten, vor denen heute Japan angesichts dieser Katastrophe steht?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)
Deswegen heißt es: Wir müssen raus aus der Atomenergie, schneller als vorgesehen. Das Restrisiko ist nach Fukushima nicht länger zu verantworten. Das ist der richtige Weg.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD - Volker Kauder (CDU/CSU): Sofort abschalten bis auf null?)
Quelle: Jürgen Trittin /
Eingestellt von PPD am Donnerstag, März 17, 2011 Labels: Unsere Angestellten
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